: Deutschland-besoffen
Die große Wiedervereinigungskoalition ■ K O M M E N T A R E
Die gesamtdeutsche Koalition hat beängstigende Ausmaße. In Leipzig wollen sich die Montagsdemonstranten wiedervereinigen. In Bonn vereinigen sich CDU, CSU, SPD und FDP hinter der Kohlschen „Konföderation“, der ideologisch verbrämten Formel für Großdeutschland. Kohl hielt die moderateste aller möglichen Reden und wollte dennoch nur eines: sich und VW und Siemens und Mannesmann wiedervereinigen.
Volksnah und aus ihrer notorischen Angst heraus, als vaterlandslose Gesellen beschimpft zu werden, ist die große Oppositionspartei SPD auf nationalen Kurs geschwenkt. Der Parteilinke Kasten Voigt sieht ein angeblich „legitimes Bedürfnis nach wachsender Gemeinsamkeit der Deutschen“, ohne zu sagen, woher diese Legitimation angesichts der deutschen Geschichte kommen soll. Zunächst gilt es festzuhalten: die politischen Kräfte, die gegen die Wiedervereinigung kämpfen, verlieren rapide an Boden. Und: Die Dynamik der leeren Regale in der DDR erhält zusätzliche politische Kraft durch die Angst der westdeutschen Linken vor der politischen Isolation. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Müssen wir also alle aufspringen auf den Deutschland-Express, um noch politikfähig zu bleiben und um wenigstens die Modalitäten der Wiedervereinigung mitbestimmen zu können, wie inzwischen viele Grüne und Linke glauben? Das hieße, zu kapitulieren, bevor überhaupt versucht wurde, der DDR eine eigenstaatliche Chance zu geben. Das hieße, die Sehnsucht nach einer anderen, gerechteren, besseren Gesellschaft zu beerdigen. Der Glaube von Voigt und anderen, daß gerade die Linke in einem „Prozeß des Zusammenwachsens“ beider Staaten an Boden gewinnen wird, ist blauäugig und durch nichts belegt. Unübersehbar dagegen ist, daß die bundesdeutschen Konzerne wie die Geier in den Startlöchern stehen, um die Konkursmasse der DDR zu übernehmen. Mit der Eigenstaatlichkeit der DDR wird sich dann auch der ganze „sozialistische Firlefanz“ einschließlich aller ökologischer Ansätze der neuen Opposition wie die berühmte Brausetablette auflösen.
Das schlechte Gewissen der Westdeutschen Linken, 40 Jahre satt und fett wie die Made im Speck gelebt zu haben, darf nicht dazu führen, den Widerstand gegen die Wiedervereinigung mit Hinweis auf die DDR-Versorgungsmisere als zynisch zu denunzieren. Und außerdem ist noch lange nicht entschieden, ob nicht doch in der Bevölkerung die Restvernunft gegen die Wiedervereinigung mobilisierbar ist.
Die in dieser Situation so notwendige Intervention der Grünen mißglückte, weil sie unehrlich war. Der Versuch ihrer Bundestagsrednerin Oesterle-Schwerin, das in der Tat ungeheure Wohlstandsgefälle DDR-BRD abzuleugnen und die DDR zu einem „Südfrüchte-Paradies“ umzudichten, war peinlich genug. So kam dann der wichtigste Zwischenruf von Ellie Wiesel, der daran erinnerte, daß das Zentrum der neuen Deutschland-Besoffenheit die Schaltzentrale für die Ermordung und Ausrottung der Juden war: Berlin.
Manfred Kriener
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