: Zwischenbilanz
Die pädagogische Selbstbeschränkung der westdeutschen Provinz ändert nichts ■ K O M M E N T A R
Die Begriffe fließen, die Begriffshülsen wirft der reißende Strom ans Ufer. Nichts grotesker, nichts trauriger als links und rechts aus Begriffsresten zusammengeleimte Positionen, die die Geschichte schon am nächsten Tag entwertet. Der Revolution in der DDR eilen nicht die Ideen voraus, sondern die Oberen Fliehen vor ihr weg. In der Bundesrepublik geht es zurück ins geistige Arsenal der fünfziger Jahre. Nehmen wir die uns alle verbindende Wiedervereinigung. Kohl hatte mit seinem nach vorne hin vagen, aber klug vorgetragenen Zehn-Punkte-Programm einen kurzen Erfolg. Er versuchte durch eine Bundestagsentschließung draufzusatteln, und schon war der nationale Konsens dahin. Mit seinem Vorstoß hat er, bevor noch die „diplomatische Offensive“ der Bundesregierung richtig in Gang gekommen ist, die Wiedervereinigungsfrage internationalisiert. Die USA sagten Ja zur Wiedervereinigung, aber im Rahmen der Nato; also sagten sie Nein. Die Sowjetunion definierte sie als Belastung des Europäischen Hauses. Als politisches Programm ist die Wiedervereinigung zunächst vom Tisch.
Die Linke machte nichtsdestoweniger eine Alarmübung zur Rettung alter Weltbilder, hüben wie drüben. Siehe Aufruf „Unser Land“ in der DDR, siehe grüne Bundestagsreden. Zweistaatlichkeit als Getto, als staatlich geschütztes Gehege für eine Kollektivsuche nach dem dritten Weg? Wie hilflos, geschichtlichen Prozessen, Prozessen, in denen Massen tatsächlich in erster Person reden, pädagogische Utopien entgegenzusetzen. Die Linken, wie übrigens auch die Rechten, haben hierzulande und auch drüben nicht gesehen, daß die Wiedervereinigung schon stattgefunden hat, nicht die Deutschlands, sondern die der Deutschen. Und diese Wiedervereinigung war friedvoll, unspektakulär, unstaatlich. Die Nationalhymne hatte da keinen Platz.
Auch wenn der Begriff der Wiedervereinigung tot ist, ist er eine Gefahr. Nichts ist gefährlicher als Begriffsvampire; sie nehmen es vom Lebendigen. Natürlich ist der Begriff in den Köpfen der Massen, hüben wie drüben, aber er ist verschiedenes. Hierzulande ist es ein Angst- und Beschwörungsbegriff: die Westdeutschen akzeptieren DDR -Besuch, aber nicht Massenflucht. Wiedervereinigung ist die einzig plausible Formel, damit die Ostler drüben bleiben. In Leipzig heißt „Deutschland, einig Vaterland“ etwas anderes: der Platz an der Sonne, das Mißtrauen gegen die Wende, die pure Verzweiflung über 40 Jahre Sozialismus, über vierzig Jahre verschwendete Arbeitskraft und Lebenszeit - und der Wunsch, in den letzten Lebensjahrzehnten etwas von dem Leben zu haben, das in der DDR immer gefehlt hat. Wer will es verdenken, daß sie nicht mehr für Ziele, sondern für sich selbst leben wollen.
Daß diese gesamtdeutsche Mischung aus Besitzangst hüben und Verzweiflung drüben brisant ist, muß nicht erst betont werden. Wir erleben schleichende Demagogie ohne Demagogen. Es könnte tragisch sein, daß die DDR-Opposition, von der die Zukunft der DDR abhängt, keine revolutionären Führer hervorgebracht hat, sondern nur Sprecher. Schon zeigt sich in Leipzig, daß die politische Bindekraft der Opposition nicht mehr ausreicht. Aus dieser Disposition heraus könnte jedenfalls in der DDR in dem nächsten Jahr eine Wiedervereinigungspartei entstehen, deren Rolle und Bedeutung völlig unabhängig davon sein wird, wie dann die Bonner Politik aussieht.
Womit die bundesdeutsche Politik nach wie vor, trotz Besuchen, Einladungen, gesamtdeutschen Talkshows nicht rechnet, das ist die Entwicklung in der DDR selbst. Wir beschwören die friedliche Revolution der DDR, schreinen sie ein zu einer welthistorischen Utopie und beraten über die Deutung der Ergebnisse. Wer aber sagt, daß sie zu Ende ist, wer sagt, daß sie friedlich bleiben wird? Der Machtapparat der SED ist noch intakt. Bis jetzt hat der Apparat nur Ballast abgeworfen, die Machterhaltungspolitik ist noch ungebrochen. Was passiert, wenn sie wirklich in Gefahr ist?
Und die Massen? Wie lange bleiben die Leipziger Montagsläufe noch friedlich, wie lange akzeptieren sie noch die Menschenkette des Neuen Forums vor dem Stasi-Gebäude. Die Wut nimmt mit der Demokratisierung nicht ab, sondern zu. Gleichzeitig, um Marx zu zitieren, haben die Massen noch nie ein „Exempel der Volksrache“ statuieren können. Die Objekte der Wut, die Mittags, Tischs, Stophs werden abgeräumt. Bevor die Massen ankommen, ist Wandlitz schon verlassen. Jetzt ist auch Krenz mitsamt dem Politbüro und dem ZK über Bord gegangen. Warum vierzig Jahre Angst, vierzig Jahre demütigender Selbstunterdrückung bis zur individuellen Grauheit, wenn die Unterdrücker weggeblasen werden können wie die Samen auf einer Pusteblume? Wohin eigentlich mit der Wut? Und: Die Massen sind nicht einfach unterdrückt worden bis hin in den individuellen Witz, bis hin in den Familienkreis: sie haben auch die Selbstachtung verloren. Wer befreit sie von diesen Jahren der Selbstdemütigung? Das kann weder die Flucht zu Kudamm noch die Übersiedlung noch der Dennoch-Glaube an Begriffe einer sozialistischen Zukunft leisten, die immer nur ein geistiges Unterdrückungsinstrument war. Aufrechter Gang läßt die Wunden erst recht schmerzen. Was wird aus diesem langen gemeinsamen Schmerz?
Klaus Hartung
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