: Die Wunschmaschine Revolution
Furiose Inszenierung des „Marat/Sade“ am Samstag abend in der Volksbühne West-Berlin Ein tot geglaubtes Stück in neuer Aktualität / Eine Inszenierung über Revolution und Glaubwürdigkeit ■ Von Elke Schmitter
Berlin (taz) - Wir sind unter uns. Wir sind blind. Die Revolution findet anderswo statt. Dort werden bisher Stumme zu Subjekten, sprechen eine Sprache, die vertraut und abgelegt zugleich in unseren Ohren klingt. Das Pathos mißbrauchter Texte erfaßt uns, zweifelnd: Wo sind wir angelangt?
Wir sind im Badehaus der Irrenanstalt. Zwölf Autisten ergehen sich mit ihren Körpern und in ihren Texten, streicheln und betasten sich, zerstückeln, singen und schreien sie, flüstern auch geheimnisvoll, verstehen aber: nichts? Mittendrin liegt der Marquis de Sade in einer versenkten Wanne und hat sein aufmerksames und ironisches Vergnügen, ganz entspannt im Hier und Jetzt; ein Kölscher Jung‘, der freundlich seine Kommentare spricht, ganz gelöste Bösartigkeit, verstehend aber: alles? Der Theaterdirektor, der auch Irrenhausdirektor ist, malt unterdes ein Revolutionsbild an die Tafel, selbstvergessen schmiert er einen Christus hinzu, entstiegen irgendeiner Rinde der Geschichte dieses Stammhirns. Wenn die Tafel weiß ist, wird das Stück zu Ende sein?
Es wird. Es wird sich gehandelt haben um die Aufführung des Stücks „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ von Peter Weiss und um ein Ereignis, das zeigt: Hier wird, im Sinne des Wortes, unsere Sache verhandelt: In welcher Sprache läßt sich von Revolution noch reden, welche Glaubwürdigkeit hat ein Text noch, der von der Wirklichkeit widerlegt worden zu sein scheint?
Es ist schwierig, ein Drama, das streckenweise wie das 'Neue Deutschland‘ klingt, heute noch auf die Bühne zu bringen - in beiden Teilen Deutschlands. Es ist noch schwieriger, den glühenden Sozialisten Marat als einen zu zeigen, der recht hat und behält, wenn sein Programm von der Wirklichkeit korrumpiert worden ist. Und es ist schlechterdings unmöglich, den Philosophen de Sade, der auf das Recht der Körpersprache beharrte, zum Verstummen zu bringen in einer Zeit, da außerhalb der Bühne sinnliche Lust und Eigensinn zu einem Programm geworden sind, das jedes Gemeinwohl übertrumpft.
Am Samstag abend in der Freien Volksbühne West-Berlins ist das Kunststück gelungen, die Widersprüche zum Sprechen zu bringen. Die Premiere löste Empörung wie Jubel aus unbeteiligt blieb niemand.
Zwölf Irre spielen mit sich selbst und ihrer Rolle, sie spielen ein Stück von de Sade. Es ist der einzige klar bei Kopfe in diesem Spiel, aber auch er ist Insasse dieser Anstalt, welche die Rückseite der Aufklärung zeigt: die Normierung der Köpfe, ihre Ausrichtung auf die breite Straße der Vernunft, die nur noch geradeaus führen soll. De Sade steht für eine Abweichung, eine reaktionäre Schleife zurück zu dem, was der Vernunft zum Opfer fallen soll: die Lust in all ihren gefährlichen Spielarten, die Perversion und das Vergnügen daran, die reaktionäre Besinnung auf die Grenzen des Selbst, den Körper. Er thront behäbig im warmen Wasser und dirigiert sein Spiel, das er mit allerhöchster Erlaubnis in dieser Anstalt aufführen darf, im Jahre 1808, vor geladenen Gästen. Spielzeit ist der 13.Juli 1793, Tag der Ermordung Jean Paul Marats durch Charlotte Corday.
Das Stück war lange für die Bühne tot. Es handelt sich um ein Produkt der sechziger Jahre, im Duktus der Dialektik, die hieß: Wir wissen es besser. Wir erklären es euch, dazu bedienen wir uns der Entfaltung der Widersprüche hin zu ihrer Aufhebung. Doch Dreitakt heißt nicht Walzerschritt, ihr sollt die Augen nicht himmelwärts wenden in Verklärung, sondern aufmerksam auf eine Bühne sehen: Dort werden Positionen gesprochen. Und so war es dann auch.
Das hat seine Wirkung getan, das hat die Köpfe beschäftigt. Da stellte ein Meister linken Denkens ein Spiel auf die Bühne, das hieß: die Wahrheit finden. Marat, das wilde Tier der Revolution, wurde befreit von seinem Schrecken, wurde gezeigt als ein radikaler Sozialist, dem Denken seiner Zeit weit voraus, und Opfer seiner Gegenwart. Sein Antipode hieß de Sade, der, Gefangener aller Regimes seiner Lebenszeit, den einen zu lasterhaft, den anderen zu reaktionär, aber allen schließlich zu gefährlich war - ein kluger Kleinbürger der Lust. Marat hat Gelegenheit, in der Badewanne an einem Manuskript arbeitend, dem Publikum seine Gedanken mitzuteilen, er entfaltet seine Position also gegen seinen Autor und Regisseur, de Sade, der dagegen immer blasser werden soll: Die Geister, die er rief, sollen ihn überwältigen. Der Autor hat ein komplexes Stück montiert, um dem Irrtum den Prozeß zu machen.
Regisseur Klaus Emmerich hat das Stück radikal gekürzt. Es bleibt ein Rumpf von einem Text, der aller dialektisch beweglichen Gliedmaßen entäußert worden ist, der auf das Auffächern der Ebenen verzichtet. Es bleiben Marat, de Sade und eine Souffleuse, umringt von schauspielernden Wahnsinnigen. Auf sie alle fällt ein steiles, milchiges Licht; die weiß gepuderten Körper scheinen dem Bild des Revolutionsmalers David entstiegen, der den toten Marat in der Badewanne darstellte als Christus der Revolution, ätherisch schön, bereits erkaltet. Aber sie leben. Sie alle, die Pirouetten der Psyche drehen, mit ihren Körperöffnungen spielen, ihren verpflasterten, dick verbundenen Penis streicheln, ihren Text im schaukelnden Singsang ausstoßen, gleich Vögeln im Bauer sinnlos trippeln und gurren, sie alle treiben nur nach außen, was die Vernünftigen nach innen treiben.
Und die Metapher schlägt zurück: Die Schauspieler nehmen die Irren ernst. Der Kunstgriff von Peter Weiss, das Stück im Narrenhaus aufführen zu lassen, ist radikal verwirklicht worden, und zwar, dem Theater sei Dank, nicht als die abgetakelte Einsicht, die Welt sei ja nur ein Irrenhaus. Sondern als paradoxe Inszenierung des Textes als revolutionäres Gestammel und gegenläufiges Sprechen. Jean Paul Marat, der Wahnsinnige, galoppiert an seinem Text entlang wie ein durchgegangenes Pferd, auf das Stichwort der Souffleuse hin (die mit der Stimme einer Wärterin spricht) wird sein Mund zur Automatikfeuerwaffe. Da scheint eine doppelte Einsicht auf: Die Voraussetzung des Regisseurs, daß wir Marats Text über die glorreiche Zukunft der Revolution schon so bis zum Überdruß kennen, daß wir ihn nicht mehr verstehen müssen. Und die zweifellos beabsichtigte, voll zum Tragen kommende Wirkung: daß wir genauestens hinhören, weil diese Ansprache kein Sprechen mehr ist, sondern das automatische Rattern einer Verheißungsmaschine, die unaufhörlich verkündet, daß der Wunsch noch immer der Erfüllung harrt. Damit gelingt die Verlebendigung einer totgeglaubten Sprache, über den Umweg ihrer Verzerrung und Denunziation, und die Entzündung einer Fackel, die nicht mehr Wahrheit, sondern Zweifel heißt.
Dagegen lästert: Sade. Gemütlich zieht er alles durch den Schlamm des Zynikers, ganz unangestrengt, das Faktische auf seiner Seite; er persifliert die Revolution, nicht nur die damalige, sondern jede, also auch: die jetzige, die sich (noch) zu Unrecht so nennen läßt. Schließlich - kann er genüßlich anführen - richten sich immer die Hoffnungen zuletzt auf das eine, nach dem Huhn im Topf die bequemeren Schuhe, in denen dann die Abstimmung mit den Füßen - und am Ende liegt doch derselbe verfaulte Partner neben den Rührigen im Bett.
Peter Weiss hat einen ideologischen Zweikampf zwischen Marat und Sade gewollt, und Klaus Emmerich und seine Schauspieler haben ihn verwirklicht. Denn obwohl der abgeklärte, zugleich höchst lebendige de Sade, den Volker Spengler intelligent und lustvoll spielt, die Autorität des klaren Sinns auf seiner Seite hat, obwohl er unablässig und erfolgreich mit dem Publikum flirtet, wendet sich dieses, staunend und fasziniert, doch auch dem spuckenden, knatternden Marat immer wieder zu und versucht, den Sinn seiner Worte zu entziffern - was es niemals täte, wenn diese Worte so gesprochen würden, wie sie immer gesprochen worden sind, mit dem Gestus der Macht, dem Mikrophon der Partei: Man muß die Wahrheit mit List verbreiten.
Texttreue hin oder her: Das provokante Gelingen dieses Versuches ist mehr wert als das ehrenhafte Scheitern aller Denkmalspflegereien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen