: GEFRORENE ALPTRÄUME
■ The Jesus and Mary Chain im Metropol
Die grellen Hallogenlichter blitzen wieder auf, Lichtschock, reflexartig zieht sich die Iris zusammen. Schwarzlichtflash, Dauerbeschuß. Rotes, kathedrales Licht, immer von der Bühne in Richtung Saal, verkehrte Welt, die Gitarristen vor den Scheinwerfern werfen Lichtspiele in den Nebel. Lila, rot, gelb, orange, nur warme Farben und doch kalt klirrend der Sound. Extrem verhallt Schlagzeug und Gesang, verzerrt Bass und Gitarre, hart und metallisch, maschinelle Höllenperfektion. Sounds fräsen sich kreisend in die Gehirnwindungen.
Sie ignorieren das Publikum immer noch, aber zeigen ihm nicht mehr penetrant den Rücken. Schwarze Lederjacken und schwarze Stimmung natürlich immer noch und die halblangen, toupierten Haare, aber sie spielen eine ganze Stunde, samt obligatorischer Zugabe. Die absolute Starre auf der Bühne, das selbstverlorene, schüchterne Winden um und Hantieren mit dem Mikroständer ist immer noch da, aber die Gesten sind überholt, denn inzwischen sind sie Stars, gefressen, aber noch nicht verdaut vom Geschäft, und keiner würde es ihnen übelnehmen, wenn sie sich wie welche benehmen würden.
Klar sind sie immer noch die beste Band, die es je in die vorderen Bereiche der Charts geschafft hat, aber aus den rotzfrechen Milchgesichtern sind etwas schlappe, ältere Milchgesichter geworden, die nicht mehr so weit von den aufgesetzten, postpubertären Frustrationsmühen einer Band wie Cure entfernt sind. Inzwischen kompatibel für kleine, pummelige Mädchen und Jungs, die es aber zu ihrem Glück noch nicht gemerkt haben. Denn im Vergleich zu Cure, der klassischen Band zur Verdauung postpubertärer Pickelängste, die immer schon nur die typischen Alpträumchen einer Anfang der 80er verlorenen Generation in zuviel Wohlklang packten, sind Jesus and Mary Chain wirklich böse, sind ihre verqueren Liebes-Splatter-Texte in den passenden Sound gekleidet, auch wenn das Feedback in den letzten Jahren deutlich abspecken mußte. Nur beim letzten Song verwandelt sich die kunstvoll kristallin gefrorene Kälte im Hirn in ein Lavabad durch die Rückkopplungsorgie, die sie auslösen. Schwarzlicht, Gitarre an den Verstärker lehnen, das Pfeifen mutiert, hört schließlich ganz auf. Licht an, Menge ab, Vorhang. Wieder ein Stück Arbeit geschafft. Wieder ein Schritt mehr auf dem Weg zum ewigen Ruhm und wieder ein Schritt mehr ins Busineß, das sie einmal auseinandernehmen wollten. Nichts ist mehr wie früher, aus Bilderstürmern werden Musiker, aus Revoluzzern werden ernsthafte Menschen, immer auf der Suche nach dem perfekten Antarktissound, und Gefangene des Systems, das sie doch von innen zerstören wollten. Aus nervenzersetzenden Feedback-Schlachten wird das durchgestylte Konzert aus Licht, Sound, Suizidstimmung, Dia -Show und viel Nebel.
Thomas Winkler
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