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Stadtwerdung in Mitteleuropa

■ „Berliner Zustände“ heißt der Beitrag des Berliner Autors im Mitte Dezember erscheinenden neuen Heft von 'Lettre International‘. Wir drucken hier den letzten Abschnitt des Aufsatzes ab.

Karl Schlögel

Berlin minus Mauer ist Westberlin und Ostberlin in reiner Form: als Produktions- und Distributionsverhältnis, als Verkehrs- und Lebensform. Daraus soll eine Stadt werden, daraus wird eine Stadt. Sie entsteht dort, wo die Auflösung der Identitäten der Halbstädte ein Vakuum hinterläßt. Sie entsteht an der Stelle, die einmal Niemandsland war. Sie wächst im Wirbel der neuen Gründerzeit. Niemand weiß, wie diese Stadt aussehen wird. Man kann nur die Agentien benennen, die im Berlin minus Mauer nun aufeinandertreffen; denn die Selbstbewegung der Kräfte überrundet die Prognose und setzt die Maßstäbe, denen sich auch die fügen müssen, die sonst ans Dirigieren gewöhnt sind.

Berlin demnächst - das ist die Summe der Menschen, die es unter den neuen Bedingungen bewohnen und miteinander auskommen müssen, nicht ein Projekt, das ohnehin niemand hat. Was sein wird, hängt von ihnen ab, von ihren Aktivitäten, Zusammenstößen und Allianzen.

Das Mißverhältnis, das bisher durch die Mauer gestützt und verdeckt war, liegt jetzt frei. Die Macht der Bedürfnisse, die bisher gebunden waren, setzt sich jetzt in Bewegung, und die Rücksichtnahmen, die bisher gegolten haben, gelten nur noch beschränkt. Der Auflösung des alten Zustandes steht jetzt nur noch wenig im Wege und die Frage ist nur, ob sie im Chaos oder geordnet vor sich geht. Berlin wachsen neue Kräfte zu. Der Run auf die besten Plätze hat begonnen, die Konkurrenz ist neu eröffnet. Berlin wird zur Schleusenkammer, in der die ost-westlichen Druckverhältnisse aufeinanderprallen. Das Kaufhaus des Westens wird zum Kaufhaus des Ostens, Schlangen gibt es von nun an nicht nur im GUM, sondern auch im KaDeWe. Gut vorgesorgt hat, wer seine Grundstücke an der Peripherie nie aus der Hand gegeben. Eine grandiose Umwertung der Werte ist im Gange. Die Geschäfte hüben werden ihren Anfangsprofit machen und sich rasch auf die Abwanderung ihrer Kundschaft nach drüben einstellen müssen. Eine Millionenbevölkerung sucht ihren Vorteil und macht sich das Grenzgefälle, solange es existiert, zunutze. Alle beuten die Differenz aus und arbeiten so ganz unkoordiniert und doch fieberhaft zielstrebig an ihrer Nivellierung. Die Deregulation kommt, die Frage ist nur in welchem Tempo, moderat oder radikal.

Man wird aus nächster Nähe studieren können, was passiert, wenn Kapitalismus und Sozialismus aufeinandertreffen. Auf Lenins Prolog „Wer wen?„ folgt der Epilog „Wer mit wem?„. Das Stadtgebiet wird zum Versuchsgelände aller, auch der bizarrsten Produktions- und Eigentumsformen - von staatssozialistisch bis zum Naturalientausch. In der neuen Interferenzzone wachsen die Hybride, die kein Konvergenztheoretiker vorausgesehen hat.

Der schwarze Markt, den es nicht geben darf, wächst, solange der legale nicht funktioniert. Mit jeder neuen Invasion kommen bisher nie gesehene Waren in die Stadt, aus Hanoi, Hongkong, Minsk, Lodz. Dem polnischen wird der ostdeutsche und diesem der russische Markt folgen. Berlin wird zur großen Karawanserei auf dem Weg der neuen Ost-West -Migration. Berlin wird zur neuen Menschenzentrifuge. Hineingeschleudert werden die Passagiere, die aus Dresden, Leipzig, Warschau, Riga, Moskau und Lwow sich auf den Weg ins Kaufhaus des Ostens aufgemacht haben. Berlin lernt Polnisch und Russisch und gewöhnt sich an Sächsisch. Die südeuropäische Küche erweitert sich um die des Ostens.

Der Austausch von Kultur geht nun ohne Subventionen vor sich, sie wandert im Gepäck und mit den Leuten in die Stadt ein. Berlin gewöhnt sich an neue Laute und neue Gesichter. Ein Pidgin-Deutsch, das voller Amerikanismen und Russismen ist, wird zum Verständigungsmittel am neuen Transitpunkt. Das Amerikahaus in der Hardenbergstraße wird neue Besucherrekorde verzeichnen und das „Haus der Freundschaft“ in der Friedrichstraße gewinnt einen neuen Interessentenkreis. Eine ganze Stadt befindet sich im „Ost -West-Dialog“, auch wenn sie es nicht weiß. Aus einem Konferenzthema ist ein Stadtpalaver geworden. Die Stücke, die jetzt geschrieben werden, drehen sich um andere Konflikte, und die Personen haben einen anderen Hintergrund. Der Streit der Fakultäten wird nun stadtweit und blockübergreifend ausgetragen. Im Cafe Adler wird jetzt auch das „ND“ ausliegen.

Die Europäer, die einen Ort und das Personal suchen, die sie brauchen für die neue ost-westliche Kontaktaufnahme, kommen nach Berlin, nicht aus Prestigegründen und aus subsidiären Absichten, sondern aus reiner Zweckmäßigkeit und weil es sich lohnt. Die Touristen kommen, wenn sie das neue Getümmel nicht schreckt, von alleine, weil sie hier das definitive Ende des Nachkriegs besichtigen können. Die neue Gründerzeit in Mittel- und Osteuropa produziert die Pioniere neuen Typs, die das fast Unmögliche zuwegebringen: effektive Hilfe zu geben, bei der sie selber auf ihre Kosten kommen, ohne dabei in einen neuen Kolonialismus zu verfallen. Berlin könnte die Schule der behutsamen Modernisierung werden, die jetzt gebraucht wird, wo die Chance besteht, im neuen Aufbruch die alten Fehler zu vermeiden. Die Debatten um den Sozialismus bekommen ihren Ernst zurück, weil endlich das Material, das seine Geschichte aufgetürmt hat, zum Ausgangspunkt gemacht wird und nicht eine Idee, die für alles verantwortlich sein soll. Es kommt endlich zu dem längst fälligen Gespräch über die deutsche Geschichte, das der Gründung des Museums vorausgeht; und es wird sich vermutlich zeigen, daß beide Seiten überfordert sind, wenn sie darauf bestehen, daß es immer die andere Seite gewesen sei, die versagt habe.

Berlin rechnet nun nicht mehr nur in Flugstunden, die zwischen Tegel und Kreta liegen, sondern in den Frequenzen der Vorortzüge, die einen nach Mecklenburg, ans Meer oder nach Dresden bringen. Man fliegt jetzt von Schönefeld aus nach Spanien und von Tegel aus nach der Krim. Berlin wird aus einer Zone der verlangsamten Zeit wieder eine Zone der Zeitbeschleunigung, wenn der S-Bahn-Ring wieder zu arbeiten begonnen hat, wenn die elend schlechten Verbindungen nach Warschau, Krakau und Prag endlich auf europäischen Normalstandard gebracht werden.

Die Fronten verwirren sich, wenn der Polarisierungspunkt, um den sich Parteiidentitäten gebildet hatten, verdampft. Man muß neu sprechen lernen, wenn sich die neuen Verhältnisse in der alten Sprache nicht mehr bezeichnen lassen.

Berlin ist der Ort der Turbulenzen, die am Beginn der Zeit, die dem Nachkrieg folgt, unausweichlich sind. Es muß nun nicht mehr die Mauer ertragen, sondern dem Druck standhalten, der mit ihrem Verschwinden frei geworden ist. Die neue Einheit ist die Geburtsstunde neuer Feindschaften. Das Spekulieren mit den neuen Chancen und die Angst vor der neuen Unsicherheit rüttelt am moralischen Fundament einer Bevölkerung, in der potentiell jeder ein Grenzgänger ist. Aus Brüdern und Schwestern werden Konsumenten, und aus Konsumenten werden Produzenten, die nun die neuen Konkurrenten sind. Es gibt keine Privilegien mehr, die nicht neu erkämpft werden müssen - auch nicht für die bisher Unterprivilegierten. Mit dem äußeren Status gerät auch der soziale in Bewegung. Die DM-Besitzer werden zur Kaste inmitten des hin- und herwogenden Meeres von Kauflustigen ohne Geld. Der Haß auf die Platzhalter von gestern verschafft sich Luft. Die Revolten der Geschädigten der Grenzöffnung auf beiden Seiten werden nicht auf sich warten lassen, die Suche nach Sündenböcken kann beginnen. In einer offenen Stadt sind die Objekte von Neid und Hass leicht auszumachen und in einer Stadt, die eine Sprache spricht, sind die, die diese Sprache nicht sprechen, leicht identifizierbar.

Berlin, das ohne Mauer leben will, muss damit fertig werden ohne die Sicherungen, die die Mauer geboten hat. Die Stadt hat statt der militärischen Festungsanlagen, die vordem ihre Stabilität garantierten, nun nur noch die Mittel einer Stadt, zivile Mittel, die Kraft der Zivilgesellschaft, die Methoden der demilitarisierten Zone. Sie hat, um die qualvolle Asymmetrie auszuhalten und zu überwinden nichts anderes als den gesunden Egoismus ihrer Bürger, die am Ausgleich arbeiten. Sie arbeitet an einer neuen Einheit, vor der niemand Angst haben muss, und die man eine Wiedervereinigung nennen könnte, wenn das nicht zu ungenau wäre.

Die Stadt kreist um ein neues Forum, das notwendig ist, wenn das Berlin minus Mauer zu einer Polis werden soll, die die neue Offenheit aushält. Dieses Forum gibt es noch nicht. Aber es liegt vermutlich irgendwo im Schnittpunkt der Linien, die zwischen dem Schöneberger und dem Roten Rathaus, zwischen dem Kurfürstendamm und dem Alex, zwischen den Kneipen am Savigny-Platz und denen am Prenzlauer Berg, zwischen den Neubauvierteln von Marzahn und Gropiusstadt, zwischen dem Palast der Republik und dem KaDeWe verlaufen. Dort wird das Schwierigste vollbracht: der Übergang zur neuen Tagesordnung in Mitteleuropa.

Berlin durchläuft im Zeitraffer alle Phasen der Stadtwerdung. Man darf sich durch die modernen Namen, unter denen sich alles abspielt, nicht täuschen lassen. Check Point Charlie, Gleisdreieck, Friedrichstraße, Potsdamer Platz, Zoologischer Garten bezeichnen das Terrain für einen Vorgang von archaisch-elementarer Wucht. Es fing klein, kaum merklich an mit dem Polenmarkt kurz hinter der Grenze, dort wo es die Furt, den Übergang gibt. Die Händler kamen von weither, haben mehrere Grenzen hinter sich gebracht. Die Waren, die sie mitbrachten, waren ziemlich exotisch. Alles spielte sich ab im Schatten der Stadtmauer. „Stadtluft macht frei“. Die Stadttore wurden geöffnet und Brücken wurden geschlagen. Aus einer Wüste wurde ein Marktplatz.

Auf dem großen Basar herrscht babylonische Sprachverwirrung. Der Platz hallt wieder von den Legenden der Grenzüberschreitung, von Erzählungen aus Landschaften in unendlichen Ebenen und mit wunderbaren Städten, die zu Ruinen geworden sind. Die neue Stadt hat ihre magischen Orte und goldenen Kultstätten. Sie ist überfüllt wie eine Oase oder Zeltstadt, in der die Karawanen Halt machen. Ein märchenhafter Ort, an dem sich die Reisenden aus dem Orient und dem Okzident berichten, was sie mit eigenen Augen gesehen haben: vom sagenhaften Reichtum, von unvorstellbarer Armut, von den Tücken der Fata Morgana, von Wegelagerern und überlisteten Landesherren. Jeder hat etwas beizusteuern: Legenden, Märchengeschichten, Abenteuergeschichten. Und sie alle berichten von einem Wunder, vom großen Wunder einer Stadtwerdung in Mitteleuropa in den letzten Jahren des 20.Jahrhunderts.

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