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MUSIKENTBINDUNG

■ Fluxusmusik aus den 60ern im Konzertsaal der HdK

Schläge und Schreie, Scherben, Blut und Tortenmatsch - kein Zweifel: Es ist Weihnachtszeit. Man frißt Schokoladenweihnachtsmänner, wirft sich in feierliche Schale und geht ins Konzert. Daß man aber dort von eben dieser Wirklichkeit eingeholt wird, liegt an der Fluxusmusik, aufgeführt von Studierenden der HdK ausgerechnet am verfluxten Nikolaustag.

Was hat die 'New York Times‘ im Mixgerät zu suchen, was hat ein Haufen Glühbirnen mit Musik zu tun? Antworten gibt's nur schnipsel- und splitterweise, dadaistisch grell, kurz und schmerzhaft.

„Fluxus“ heißt Fließen - und das ist schon das ganze Programm. Musik ist zum Beispiel das Plätschern des Wassers der sich waschenden Männer, das rubbelnde Zerreißen einer Collagenwand, ratloses Gemurmel eines Publikums im Dunkeln.

Heute ist es nicht mehr besonders originell, wenn ein Konzertflügel mit Händen, Füßen und Werkzeugen überall traktiert wird außer auf den Tasten (Stockhausen ließ ihn seinerzeit sogar mal bepinkeln). Aber in der Fluxusbewegung ist eine äußerst dauerhafte Idee entstanden, oder besser mehrere: Alles bewegt sich komplementär zueinander. Die Akteurinnen und Akteure reagieren aufeinander, aufs Publikum, auf die Bühne, das Publikum auf den Raum etc. Das Wesentliche besteht in der Unberechenbarkeit von Durchführung, Dauer und Improvisation der Stücke von George Brecht, Wolf Vostell oder Dieter Schnebel. Der Zufall ist Kapellmeister. Beispielsweise hängt Eric Andersens „opus46“ vollständig von der Zusammensetzung des Publikums ab - das Licht geht aus, und die geräuschvolle Stille der folgenden zwei Minuten ist das Stück.

Grenzen existieren nur, um zu verschwinden: Musik wird zum Theater (besonders kraß in den witzigen Mini-Einaktern von Higgins, Hendricks oder Brecht), der Zuschauerraum zur Bühne, das Publikum zum Akteur. Instrumente spielen zwar, werden aber benutzt, um die eitle Professionalität zu karikieren.

Dabei überschreiten die vorzüglichen SpielerInnen (zehn Frauen, sieben Männer) auch schnurstracks die Grenzen der gängigen Aufführungspraxis: Sie schmieren sich mit Rasierschaum voll und übergießen sich mit Wasser, Finger werden blutig geschnitten, Köpfe kahlrasiert. Higgins‘ „Solo für Blasinstrumente“ entwickelt sich schon zum lustvollen Fest: Aus Schoko-Weihnachtsmännern werden durch genüßliches Beißen und Bohren Einweg-Instrumente, solange bis der braune Klumpen statt Tönen nur noch Schmierspuren hinterläßt. Jauchzet, frohlocket!

Dieter Schnebels wenig pastorales Adventskonzert hat einen guten Zeitpunkt erwischt: Das Heilige ist nämlich nicht die Wahrheit, das Absurde ist das Wahre - und selbst das ist schon fast sakral.

Christian Vandersee

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