: RICHTIGE BEGRÜNDUNGEN
■ Seine Heiligkeit der Dalai Lama im Haus der Weltkulturen
Um halb sechs schon drängen sich Hunderte vor dem Eingang des Hauses der Weltkulturen, um Seine Heiligkeit den Dalai Lama zu sehen. Viele halten Schilder hoch: „Suche Karte!“ Als ich mich an den Nichtkartenbesitzern vorbeidränge, wird mir gesagt, daß ich ja wohl nicht besonders erleuchtet sei. Alle sind furchtbar aufgeregt. Am Eingang, zu dem ich mich endlich gedrängt habe, erklärt man mir, daß hier nur Leute mit grünen Karten rein dürften. Ich habe aber eine orange Karte und muß das HdW umkreisen, stehe schließlich vor einem anderen Eingang, der jedoch verschlossen ist. Irgendwann werden wir doch hineingelassen - man hatte das Auditorium gestürmt und deswegen konnten wir ins Foyer. Dort lagert sich alles um eine Leinwand. Viele haben ihre Kinder mitgebracht. Die gucken, wer denn wohl hinter der Leinwand ist. Die, die vorne sind, legen sich hin, damit die dahinter auch gut sehen können. Zunächst ist da aber nur Franz Alt, der die tibetanische Situation schildert und die Politiker dafür anklagt, daß sie den Dalai Lama nicht empfangen: „Die regierenden Mörder in China“, so Alt, „sind ihnen noch mehr wert als ein Händedruck mit dem Friedensnobelpreisträger 1989.“ (Zur tibetanischen Situation siehe auch die taz vom 6.12.89)
Um über sein Lieblingsthema, Erbarmen, Liebe zu sprechen, wäre der Dalai Lama da. Schon als ich klein war, hörte ich von dieser Stadt Berlin ... habe Bilder von ihr gesehen ... eine Stadt, von der ich schon in jungen Jahren den Wunsch hatte, sie einmal zu sehen. Man glaubt es ihm aufs Wort. Er spricht nicht über den Buddhismus, er versucht als Mensch zu Menschen zu sprechen. Er hat kein Manuskript, sondern entwickelt seine Gedanken im Sprechen. Die Gedanken, die Anthropologie, die er entwickelt, ist einfach. Kraft bekommt sie vor allem durch seine Ausstrahlung, auch durch die Form ihrer Äußerung, der verkürzt auf wenige Sätze - ihre Substanz verloren gehen würde.
Der Mensch ist vielleicht so, daß, wenn es ihm sehr gut geht, es ihm schwer fällt, bestimmte Dinge zu verstehen; wenn es ihm dagegen etwas weniger gut geht, ist er offener und versteht bestimmte Dinge besser. Wenn man es so betrachtet, ist es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es einem manchmal ein bißchen schlechter geht. Wenn es einem schlecht geht, sind manche Leute so, daß sie vollständig ihren Mut verlieren. Wenn es einem dagegen möglich ist, Zeit, in der man Leid erfährt, zu benützen, um dieses Unbehagen zu verwenden, es so zu benützen, um mehr zu verstehen, dann kann man auch aus diesen sehr betrüblichen Erfahrungen etwas Wertvolles machen. Nur Entschlossenheit, Gerechtigkeit und richtige Begründungen, so führt er aus, hätten die Mauer überwinden können. Daß der friedliche Weg der richtige wäre, hätte sich so wieder erwiesen.
Menschliche Art, die Dinge anzugehen, ein gegenseitiges Verständnis zu finden, sei die beste Art, die Dinge zu lösen. Wenn wir von Erbarmen oder Mitleid sprechen, haben wir oft das Gefühl, daß es sich dabei um eine Einstellung handelt, die in einem auftritt, wenn man einen anderen sieht, der leidet oder der Qualen erfährt. Ich glaube nicht, daß das die wirkliche Bedeutung von Mitleid oder Erbarmen ist. Wenn von Erbarmen oder Liebe gesprochen wird, sind das Zustände des Geistes, die sehr unterschiedliche Ebenen haben können. So ist z.B. der Wunsch, daß jemand kein Leid erfahren möge, wirkliches Erbarmen. Der Wunsch, nicht nur, daß andere kein Leid erfahren mögen, sondern, daß man die Verantwortung selbst auf sich nimmt, ist wiederum eine andere Art von wirklichem Erbarmen. Und ich glaube, die Form von Erbarmen ... daß man selbst die Verantwortung dafür empfindet, etwas zu tun, daß der andere von seinem Leiden frei ist, dieses Erbarmen ist ... eines der notwendigsten Mittel um zu mehr Gerechtigkeit zu gelangen.
Das ist vielleicht auch der Unterschied seines „Bodhisattva„-Weges zu anderen buddhistischen Wegen, etwa denen der „Hörer“, denen es in erster Linie darum geht, Leid zu vermeiden, und denen der „einsamen Sucher“. Bodhisattvas sind die, die eigentlich schon Heiligkeit, also Aufhören erreicht haben und dennoch, um den anderen zu helfen, wiedergeboren werden. Ein Mönch, der in die Einsamkeit gehe, sagte Seine Heiligkeit bei seinem Besuch in der taz, bräuchte keine Religion, während der Politiker sie bräuchte, um selbstlos zu handeln.
Damit Erbarmen, einer der Grundbegriffe des Buddhismus, entstehen kann, muß der Geschmack von Weisheit vorhanden sein, und eine der außergewöhnlichsten Eigenschaften des Menschen ist es, ein solches Erbarmen ... in sich selbst zu entwickeln und in einem unendlichen Maß in sich entstehen zu lassen. Erbarmen kann gelernt werden. Doch wenn man gutherzig ist, aber nicht die Fähigkeit hat, intelligent und klar zu entscheiden, dann kann die eigene Gutherzigkeit keine weitreichenden Ziele erzeugen, und wenn jemand intelligent ist und kein Erbarmen hat, sondern unter der Herrschaft von Wut und Ärger handelt, dann können die Konsequenzen fatal sein, und wenn die Intelligenz des Menschen verbunden ist mit Haß, sind die Konsequenzen außerordentlich fatal. ... Mitgefühl und Erbarmen, das Entwickeln der Fähigkeit, ungestört zu handeln, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, das sind Ratschläge, die nicht ausschließlich mit der Ausübung einer Religion zu tun haben. ... Viele denken, daß es sicher gut ist, wenn man Religion hat, daß man aber sein Leben auch managen kann, wenn man keine Religion hat. Das ist eine Überlegung, die auch sicher der Wirklichkeit entspricht.
Wenn der Mensch zur Welt kommt, ist er nicht schon automatisch ein Anwender von Religion, aber er hat Mitgefühl und Liebe, erklärt Seine Heiligkeit. Ganz spontan fühlt sich das Kind von dem Ort angezogen, wo Liebe für es ist - es greift nach der Mutterbrust, die ihm die Mutter voll Liebe und Zuneigung entgegenstreckt. Und weil ich Honig sehr gerne habe, interessiere ich mich für Bienen. Und betrachte manchmal Bienen, und es ist erstaunlich zu sehen, daß jede Biene doch ein rechtes Gefühl von Verantwortung zu haben scheint. Sie haben keine Verfassung, sie haben keine Religion, aber sie haben spontan ein Gefühl von Verantwortung. Wir Menschen sind genauso ein Wesen, das nur in einer sozialen Struktur überleben kann. Wir sind also genauso gelagert und dennoch sind wir nicht in der Lage, spontan ein solches Gefühl der Verantwortung zu entwickeln. Ich betrachte das als etwas sehr Trauriges. Wenn wir einen Wettkampf machen würden, wer - die Bienen oder die Menschen
-ein größeres Gefühl von Verantwortung hätte, so fürchte ich, daß die Bienen ihn gewinnen und wir Menschen ziemlich weit am Schluß auftauchen würden.
Während Seine Heiligkeit spricht, stützt er den Kopf mit seinem Arm, spielt manchmal mit seinen Lippen; manchmal lacht er plötzlich. In der taz spielte er, während der Dolmetscher übersetzte, mit den Freakkindern, die jetzt wohl geheiligt sind, oder legte plötzlich, fast meckernd lachend, seinen Kopf auf die Schulter einer irritiert begeisterten tazlerin. Seine Sprache, die wie die meisten buddhistischen Lehren sehr einfach ist (selbst wennn sich hinter dieser Einfachheit „vierundachtzigtausend Bündel von Lehren“ befinden, „die der über die Welt erhabene Siegreiche Buddha erklärt hat“, und die den Zweck verfolgen, „die quälenden Gefühle wie etwa Gier zu zähmen“), ist durchsetzt von wunderbaren Bildern, Vergleichen, Sprichwörtern und höflichen Wendungen. Nicht von Schrecken und Entsetzen, die er doch selber zur Genüge erfahren hat, ist die Rede, sondern von „Betrüblichkeiten“. Dem Ärger sollen wir sagen: Halt den Mund. Wenn ein Gelehrter etwas erklärt, ist es richtig, so beantwortet er eine Publikumsfrage nach seiner Einstellung zur Atomenergie, denn hier handelt es sich um „konventionelle Wahrheiten“, die für den Buddhisten relativ sind.
Alles Leben ist Leiden, „alle verunreinigten Dinge sind leidhaft“, „alle Erscheinungen sind leer und selbst-los“, wozu auch das krampfhaft aufgerichtete christliche Selbst gehört, denn es ist, wie der Buddhismus lehrt, leer - und „Nirvana ist Friede“: Wer diese Wahrheiten des Buddhismus begreift, der erkennt auch, daß aller Reichtum substanzlos ist wie ein Tautropfen auf einem Grashalm, der nach Sonnenaufgang schnell verdunstet. So behält selbst der Reichtum eine gewisse Schönheit.
Man müsse nur etwas tun, erklärt Seine Heiligkeit, ob es Erfolg hätte, wäre nicht das Entscheidende.
Froh gehen die Zuschauer. Durch irgendein Wunder ist es wohl möglich gewesen, daß selbst die Leinwand noch Charisma übertragen konnte. Ob es Seine Heiligkeit allerdings möglich war, die Zuhörer auch über den Film zu segnen?
Detlef Kuhlbrodt
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