: Realismus statt Systemfetischismus
Die DDR-Politik muß neue Perspektiven statt Ladenhüter anbieten ■ D E B A T T E
Mag sein, daß der kalte Krieg aus ist und der Westen ihn gewonnen hat. Wäre das aber schon die ganze Wahrheit, müßte sich auch die lästige „Systemfrage“ erledigt haben. Jedoch nährt sich beiderseits der Mauer die Illusion, jetzt endlich werde sich der Sozialismus wahrhaftig, als demokratischer, als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ entfalten. DDR -Intellektuelle, unterstützt von BRD-Kollegen, rufen dazu auf, die DDR solle keine zweite BRD werden und als „sozialistische Alternative“ erhalten bleiben. Stefan Heym möchte „den sozialistischen Traum weiterträumen“, und Hans Modrow will zwar Reformen, „jedoch nicht Marktwirtschaft statt Planwirtschaft“.
Am Ende des kalten Krieges muß jedoch auch der Krieg der Ideologien, die „Systemdebatte“, überwunden werden. Fällig ist ein Paradigmenwandel, der die naiv-rationalistischen Sozialutopien endlich überschreitet. Dies wird nicht auf dem „dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Sozialismus“ geschehen. Denn die Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus ist ein abstrakt konstruiertes Modell: Freiheit gegen Gleichheit, Individualismus gegen Kollektivismus, privat gegen öffentlich, Markt gegen Staat usw. Dies sind grundlegende Dimensionen jeder modernen Gesellschaft, heute auch als Selbstverwirklichung gegen Solidarität, Ökonomie gegen Ökologie usw. Ihre Synthese besteht in der Praxis. Das heißt, jede moderne Gesellschaft bewegt sich jederzeit im Spannungsfeld von Individualität und Kollektivität usw. Unsere Wirklichkeit ist allemal die eines „gemischten Systems“.
Die alten Ordnungsvorstellungen gelten zwar weiter, jedoch nicht als geschlossene doktrinäre Systeme, sondern als ideeller Horizont, in dessen Grenzen man sich orientiert auch weiterhin seine Leitbilder findet -, und zwar: für eine Praxis, die sich jederzeit in einem selbststeuernden Prozeß im Schnittfeld der ideellen Horizonte bewegt. Man wirkt in diesem Prozeß aktiv ebenso wie passiv mit, und was man sich dabei jenseits seiner eigenen Absichten und Lieblingsideen noch vorstellen kann, gewissermaßen als Ultima ratio der politischen Vernunft, das ist, die vorhandenen Ideen, Interessen, Kräfte und Trends in der Nähe eines den jeweiligen Umständen entsprechenden Optimums auszubalancieren. Politischer Realismus heißt nicht, keine leitenden Ideen zu haben, sondern für ihre Geltung in einer Wirklichkeit einzustehen, die immer viel mehr und auch etwas anderes darstellt als die Ideen vorstellen. Deshalb können Kriterien der Wahrheit niemals in Ideen selbst liegen, sondern nur in der praktischen Bewährung. Eben das ist gemeint, wenn man sagt, etwas solle nicht an Worten, sondern an Taten gemessen werden.
Die Metapher vom kalten Krieg ist insofern irreführend, als sie suggeriert, der Westen habe den Osten niedergerungen. Jedoch fand der Wettkampf beider „Systeme“ kaum als Kampf gegeneinander, um so mehr nebeneinander statt. Man hatte sich bis zur Unsäglichkeit des Eisernen Vorhangs und der Mauer durch Deutschland voneinander abgegrenzt. Man stand in der praktischen Bewährung getrennt voneinander. Der Westen hat sich dabei ganz gut behauptet, der Ostblock nicht. Deswegen lebt man zwar im Westen noch nicht in der optimalsten aller Welten, aber mit Sicherheit gerieten die Länder des Ostblocks in die Katastrophe, weil sie sich sehr fern vom Optimum bewegt haben. Der „real existierende Sozialismus“ ist aufgrund seiner eigenen Fehler und Mängel zusammengebrochen.
In Deutschland nun verbindet sich die „Systemfrage“ mit der nationalen Frage. Es mag taktvoll sein zu sagen, beide Teile Deutschlands müßten Zeit haben, zueinander zu finden. Wäre damit aber nicht nur gemeint, einander besser kennenzulernen, sondern beide Staaten einander anzugleichen, ginge dies an der Sache völlig vorbei. Die Bundesrepublik hat sich bewährt, die DDR nicht. Man erhält kein blühendes Unternehmen, wenn man eine intakte und eine bankrotte Firma „einander näher“ bringt. In all den Jahren sind die Machthaber im Osten manisch damit beschäftigt gewesen, westliche Einflüsse in ihrem Hoheitsbereich zu unterdrücken, während es im Westen niemals attraktiv war, irgend etwas vom Osten zu übernehmen - es sei denn das Rechtsabbiegen an der roten Ampel.
Die Linke und
die nationale Frage
Wenn man die Völker im Osten läßt, gehen sie ganz von alleine den Weg, auf dem der Westen sich schon befindet den Weg eines Markt- und Staatsgefüges, das sich durch ein Geflecht von privaten und öffentlichen Verhandlungen pluralistisch selbst steuert - realistisch, pragmatisch, ethisch fundiert. Weil aber in Deutschland die Systemfrage mit der nationalen Frage zusammenfällt, wird de facto der östliche Teil Deutschlands mit dem westlichen zusammengehen, und zwar in eigenem Recht und völliger Freiheit. Der Westen braucht dazu lediglich sich weiterhin bereit halten und unaufdringlich Zusammenarbeit anbieten. Es wird de jure auch keinen Anschluß, sondern - wenn überhaupt - einen Zusammenschluß geben; keine Wiedervereinigung, sondern eine Vereinigung in den heutigen Grenzen.
Anders als in der sozialen Frage hat sich die Linke in Deutschland mit der nationalen Frage immer schwergetan. Mit dem Nationalgefühl als einem Bindemittel moderner Gesellschaften können viele Sozialdemokraten und die meisten Grünen so wenig umgehen wie Puritaner mit dem Sex. Wer aber Gefühle der Zusammengehörigkeit aufgrund nationaler und kultureller Identität unterdrückt, ist entweder ein Technokrat auf dem Weg zum Roboterstaat oder ein Ideokrat auf dem Weg zur Diktatur seiner Doktrin.
Den Sozialdemokraten droht in der Frage der Nation erneut ein Flügelstreit. Der 10-Punkte-Plan der Regierung, in jenem Moment für die SPD seltsam hilfreich wie ein Deus ex machina, hat sie noch einmal vor der Bredouille bewahrt, aber wie es scheint, nicht nachhaltig. Die Grünen haben sich bei dieser Gelegenheit gleich ganz abgehängt. Jetzt sind nur noch sie es, zusammen mit einigen anderen Abseitsgefährdeten hüben und drüben, die aus schierer Rat- und Perspektivlosigkeit alles beim alten lassen möchten. Wenn man die endgültige Teilung der Nation will - wofür es ja außer der Angst vor den übriggebliebenen Säbelraß lern im Kreml und dem Stirnrunzeln der Alliierten sonst noch Gründe geben mag -, soll man es aussprechen. Statt dessen wirft man Nebelbomben der Art, wahrhaft patriotisch sei es, wenn die von drüben drüben bleiben, damit drüben drüben bleibt. Aus einer solchen Haltung spricht eine groteske Verdrehung, zumindest Verkennung der Tatsachen.
Die von drüben fliehen, weil sie staatliche Bevormundung ebenso wie den chronischen Mangel satt haben, obwohl sie wissen, daß sie hier keine Hängematte, sondern ein schwieriger Einstieg und hohe Anforderungen erwarten. Der Wunsch nach Wohlstand ist dabei nicht weniger legitim als die Suche nach Freiheit. Jemandem „Konsumhaltung“ vorzuwerfen, der nicht länger bereit ist, zehn Jahre auf ein Auto und ein halbes Leben auf einen Telephonanschluß zu warten, ist maßlos scheinheilig, zumal aus einer Position, in der man solche Annehmlichkeiten hat.
Wenn schon Patrioten, sind es die DDR-Flüchtlinge, denen dieser etwas altmodische Ehrentitel gebührt. Denn was das Regime in die Knie zwang, war in der Tat die Sache der Massenflucht. Die Demonstrationen in Leipzig und Ost-Berlin waren bereits nur als Folge davon möglich. Daß die Flüchtlinge den Sturz des Regimes nicht beabsichtigten, ihn aber bewirkten, während jene, die ihn beabsichtigten, wirkungslos blieben, mag zu den Ironien der Geschichte gehören, ändert aber nichts an der Tatsache, daß die neuerliche existentielle Abstimmung mit den Füßen der hauptursächliche DDR-Beitrag zum Sturz des Regimes und zur Durchlöcherung der Mauer gewesen ist.
Freilich hatte dieser Beitrag seinerseits Voraussetzungen. Dazu gehört im Osten eine von Gorbatschow geführte Sowjetunion, die Ereignisse wie die in Polen und Ungarn nicht mehr mit Panzern plattmachte, sondern anfänglich sogar ermutigt hat und im weiteren Verlauf immer noch toleriert. Des weiteren gehört hierher Ungarn, das mutig und zielbewußt den Stacheldraht zerschnitt und so den Flüchtlingen eine Schneise schuf.
Durch diese Schneise konnten die Flüchtlinge aber wiederum nur gehen, weil die Bundesrepublik im Westen den DDR -Flüchtlingen ohne Wenn und Aber eine Wahlheimat offenhält. Der authentische Beitrag der Bundesrepublik liegt somit darin, am Anspruch der Vereinigung beider deutscher Staaten in freier Entscheidung festgehalten zu haben. Hätte man sich dagegen hüben mit der Zweistaatlichkeit abgefunden und die DDR-Staatsbürgerschaft anerkannt, hätte sich drüben nichts oder nur wenig geändert.
Falle des demokratischen Sozialismus in der DDR
Eine weitere Verkennung der Tatsachen liegt schließlich in der unbegründeten Hoffnung auf ein Erblühen der DDR durch einen demokratischen Sozialismus. Was der Sozialdemokratie auf den ersten Blick zu schmeicheln scheint, ist in Wirklichkeit eine Falle, in die zu tappen sie sich hüten muß. Der demokratische Sozialismus hat sich im Westen als sinnvolles und erfolgreiches Konzept erwiesen. Er trug dazu bei, spätbürgerliche Reste in der Gesellschaft zu beseitigen und einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat aufzubauen.
SPD und Gewerkschaften haben dies jedoch nicht in stolzer Alleinheit vermocht, sondern im konfliktvollen Zusammenspiel mit CDU und FDP sowie den Arbeitgeber- und Industrieverbänden. Zum Beispiel hatte die SPD bis Godesberg nur den ordnungspolitischen Ladenhüter eines „freiheitlichen Sozialismus“ anzubieten, und sie hat erst unter dem Druck ihrer damaligen Wahlniederlagen lernen müssen, was „soziale Marktwirtschaft“ in der Praxis bedeutet. Zu deren Fortentwicklung hat der demokratische Sozialismus dann in den weiteren Jahren durchaus Verdienstvolles geleistet.
Aber im Osten heute herrschen gänzlich andere Verhältnisse als im Westen gestern. Im Osten gibt es weder Reste einer spätbürgerlichen Gesellschaft noch Spuren jenes Kapitalismus, wie er bis in die Zwischenkriegszeit hinein noch geherrscht haben mochte. Vielmehr existiert hier bereits eine reine Arbeitnehmergesellschaft im Prokrustesbett eines bürokratisch-zentralistischen Industriefeudalismus. In dieser Ausgangslage braucht es nicht schon wieder eine Dosis „Sozialismus“, sondern eine satte Dosis Freiheitlichkeit in allen Lebensbereichen: ein freies Kultur- und Geistesleben, eine parteienunabhängige Medienöffentlichkeit, einen Rechtsstaat, der nicht nur Rechte und Pflichten kennt, sondern vor allem sämtliche Freiheiten des modernen Staatsbürgers gewährleistet, vom lauten Denken bis hin zur Gewerbefreiheit und Verkehrsfreiheit, und dies mittels einer frei schöpfenden Kreditwirtschaft mit einer vom Staat nicht manipulierten Währung, einem freien Außenhandel und einem Eigentumspluralismus der Unternehmen, in die der Staat nicht länger hineinpfuscht. Dies sind jetzt die Signale für die Völker drüben.
Joseph Huber
Der Autor ist Sozialwissenschaftler, einer der Gründer des „Netzwerks“ und Publizist vieler Bücher über Ökologie und Selbsthilfebewegung.
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