: Bulgarische Beschleunigung
Aber die Kommunisten symbolisieren noch Stabilität ■ K O M M E N T A R E
Bis zum 10.November waren die Intellektuellen Sofias, die die unabhängigen Initiativen und Vereinigungen fast ausschließlich trugen, ständigen Schikanen - Verhaftungen, Durchsuchungen, Entlassungen - ausgesetzt. Der Sturz von Parteichef Todor Schiwkow bedeutete da eine Erlösung. Aber die übrigen Bulgaren mußten sich erst einmal an das helle Licht gewöhnen und blinzeln. Erst die Kundgebung vor vierzehn Tagen führte eine größere Menschenmenge zu einer Art ausgelassenem Freudenfest zusammen. Die Kundgebung am letzten Sonntag war dagegen etwas kleiner, aber ihre Teilnehmer ernster und entschlossener. Mehr und mehr Bulgaren nehmen die neugewonnen Freiheiten nun in ihre Hände.
Gleichwohl unterscheidet sich die Situation von jener in der DDR oder der CSSR. Die unabhängigen Intellektuellen hüteten sich lange davor, als die Opposition aufzutreten, die sie de facto waren. Das Brandmal „antisozialistisch“ weckte schlimmere Erwartungen als das Brandmal „extremistisch“. Und noch heute blicken sie aufmerksam auf das ZK der BKP und den Parteichef Mladenow. Als einem, der unter Schiwkow aufstieg, gilt ihm Mißtrauen, als ehemaliger Außenminister ist er ein innenpolitisch fast unbeschriebenes Blatt, das nun mit zugleich radikalreformerischen und vorsichtigen Aussagen gefüllt wird. So hat er bei vielen Intellektuellen einen halben Vertrauensvorschuß; er ist weder ein Jakes noch ein Krenz. Dafür ist die Parteibasis noch nicht in Bewegung geraten. Mladenow hält die Zügel auch weiterhin in der Hand. Ein Zusammenbruch der Partei und ihrer politischen Dominanz steht nicht an. Die Geheimpolizei vernichtet noch keine Akten.
Auf der anderen Seite gewinnt die Bewegung in der Bevölkerung zunehmend an Boden. Es sind keineswegs nur Intellektuelle oder Studenten, die sich zu Kundgebungen und Mahnwachen versammeln; es ist ein Querschnitt durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten. Nachdem die Angst verschwunden ist, wächst die Bereitschaft, Petitionen zu unterschreiben und sich informellen Organisationen anzuschließen. Das zunächst langsam sich beschleunigende Wachsen einer zivilen Gesellschaft ist erkennbar. Dieses Wachsen des Mutes setzt auch die Organisatoren der informellen Vereinigungen unter Druck. Was als ein Netz von Klubs begann, die sich in Wohnungen versammelten, in denen jeder jeden kannte und deren Mitgliederschaft sich weitgehend überschnitt, schwillt jetzt zu einer Gruppe großer Organisationen an, die noch strukturiert werden müssen. Der damit von unten her entstehende Impetus aber könnte sich radikaler formulieren, als es dem ursprünglichen Ansatz der Initiatoren entsprach. Sind Bewegungen erst einmal in Bewegung geraten, dann sind sie nicht mehr beliebig, vor allem kaum noch taktisch zu lenken.
Dieser Punkt könnte bald erreicht sein. Zwar bedächtiger als in der DDR oder in der Tschechoslowakei, aber ebenso eindeutig beschleunigt sich der Zeitrhythmus. Die informellen Vereinigungen haben viele Stichworte vorgegeben, die der Bevölkerung helfen, ihren Unmut zu denken und zu artikulieren. Eine politische Differenzierung, entsprechend diesen Zielen, steht hinter dem - die ganze Bewegung einigenden - Wunsch zurück, mit dem „totalitären System zu brechen“. Der Mangel an darüber hinausgehender Differenzierung und Eindeutigkeit schlägt damit positiv zu Buche: Er treibt den Dynamisierungsprozeß voran. Angesichts dessen vermag keiner vorherzusagen, was nächste Woche oder gar nächsten Monat sein wird - auch wenn Mladenow und mit ihm die Partei noch Stabilität symbolisieren.
Erhard Stölting
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