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Anklage nach WAA-Demo auf tönernen Füßen

Video soll Steinewerfer bei den Wackersdorfer Herbstaktionen im Oktober 1987 identifizieren / Polizeizeugen machen Aussagen, die nicht miteinander vereinbar sind / „Abrißbeschädigung“ am Turnschuh als Hauptbelastungsindiz / Pannen im Ermittlungsverfahren  ■  Aus Schwandorf Bernd Siegler

Seit 65 Tagen sitzt der 24jährige Bernd T. in Amberg in Untersuchungshaft. Der Plan, eine Wiederaufarbeitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf zu bauen, ist zwar seit Monaten schon endgültig begraben, doch die Amberger Staatsanwaltschaft läßt nicht locker. Die Anklagebehörde glaubt, Bernd T. als Steinewerfer bei den Herbstaktionen gegen die Wiederaufbereitungsanlage im Oktober 1987 überführt zu haben. In drei Verhandlungstagen gelingt es dem Schwandorfer Amtsgericht nicht, Licht ins Dunkel der Sache zu bringen. Ein Polizeivideofilm, zwei Lokaltermine am Bauzaun, drei Sachverständige des Landeskriminalamtes und 17 Polizeizeugen lassen die Anklage wegen schweren Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung nach und nach wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Das hindert Staatsanwalt Schmalzbauer freilich nicht daran, eine Freiheitsstrafe von 15 Monaten ohne Bewährung für Bernd T. zu fordern. Statt des gestern zu erwartenden Urteils fährt das Gericht mit der Beweisaufnahme fort.

Am 10.Oktober 1987 zogen 30.000 WAA-GegnerInnen trotz Demonstrationsverbot zum Bauzaun. Dort machte insbesondere die Berliner Spezialeinheit EbLT mit einer wahren Prügelorgie von sich reden. Um 15.57 Uhr soll genau im Einsatzbereich der EbLT der Arbeitslose Bernd T. den Bereitschaftspolizisten Penzkofer mit einem Steinwurf am Hals getroffen haben. Der 21jährige Beamte soll dabei eine Kehlkopfprellung erlitten haben. Die Anklage gegen Bernd T. stützt sich vor allem auf Videoaufnahmen der Polizei.

Sie zeigen einen langhaarigen, unvermummten Mann, der fünf Meter aus der Menge der WAA-DemonstrantInnen hervortritt, zu Boden greift und zur Wurfbewegung ausholt. Danach hebt der Werfer in Siegerpose einen Arm und geht zur Gruppe der DemonstrantInnen zurück. Der Wurf selbst ist auf dem Videofilm nicht zu erkennen, da sich der Kameramann in diesem Moment weggeduckt hatte. Das Video wird wie bei vielen anderen WAA-Verfahren zum Ausgangspunkt aufwendiger Ermittlungen. Es wird der zum Schutz des Dokumentationstrupps eingesetzten Bereitschaftspolizei -Einheit vorgespielt. Dabei glauben fünf Beamte, den Vorgang beobachtet zu haben. Einer von ihnen, Gruppenführer Fuchs, schreibt eine Stellungnahme, die anderen begnügen sich damit, diese später zu unterschreiben.

Für den Anwalt von Bernd T., dem Regensburger Franz Schwinghammer, ist das ein klarer Fall von Ermittlungspanne. „Niemand kann mehr überprüfen, welche Beobachtungen die Beamten wirklich gemacht haben und welche sie aus dem Videofilm übernommen haben.“ Für ihn ist es deshalb kein Wunder, daß mit jedem der vor Gericht als Zeugen auftretenden Polizeibeamten die Anzahl der Tatversionen steigt.

Lauter widersprüchliche

Aussagen der Beamten

Der Beamte Fuchs, jungdynamisch die Haare mit Wet-Gel gestylt, ist sich seiner Sache völlig sicher. Vor und nach dem von ihm beobachteten Wurf habe es keinen anderen Bewurf gegeben. Seine Kollegen sprechen dagegen von „vereinzelten Würfen“ oder gar einem „Steinhagel“. Die Angaben über die Entfernung des Opfers vom Bauzaun schwanken von „höchstens fünf“ bis zu 90 Meter, Fuchs liegt bei 40. Einmal war die beworfene Polizeigruppe im Laufen begriffen, ein anderes Mal war sie nicht in Bewegung und stand.

Es sind mehrere Tatgeschehen beobachtet worden, die mit dem Video nicht in Einklang zu bringen sind, folgert Rechtsanwalt Schwinghammer aus den Zeugenaussagen. Weder Tatzeit und -ort noch Wurfgegenstand und -richtung seien eindeutig feststellbar. So bleibt auch im Dunkeln, warum Gruppenführer Fuchs, der das Geschehen und den Werfer angeblich genau beobachtet hatte, keinen Funkspruch absetzte, um den Werfer festnehmen zu lassen oder zumindest eine Täterbescheibung weiterzugeben.

Nachdem im Fall Bernd T. die Videoauswertung beim Landeskriminalamt beendet war, wurden 137 Lichtbildmappen quer durch Bayern versandt. Ein Polizist in Feuchtwangen glaubte, auf den Lichtbildern Bernd T. erkannt zu haben. Bei einer Hausdurchsuchung bei Bernd T. im August 1988 wurden schließlich Kleidungsstücke und Fotos beschlagnahmt.

Dann traten die Gutachter in Aktion. Ärztin Stahl-Schultz konnte in ihrem im Auftrag vom LKA erstellten anthropologischen Gutachten zwar Übereinstimmungen wie ein „schmales Gesicht, vorstehendes Jochbein rechts, eckiges Kinn und gerade Nase“ feststellen, für Details seien die Fotos vom Video jedoch zu unscharf. Auch Biologe Steppner, zuständig beim LKA für die Überprüfung der gefundenen Kleidung, mußte angesichts der Bildqualität passen.

So rückte der für „Formvergleich und anderes“ zuständige Kriminalbeamte Vogel in den Mittelpunkt des Geschehens. Er glaubte eine identische „Abrißbeschädigung am vorderen Bogen der Symbolaufnähung an der Außenseite des rechten Turnschuhes“ an den beschlagnahmten und den auf dem Video zu sehenden Turnschuhen erkannt zu haben. Grund genug für die Staatsanwaltschaft, Bernd T. in Untersuchungshaft zu bringen, als er bei dem ersten Prozeßtermin im Oktober unzureichend entschuldigt gefehlt hatte.

Vor Gericht muß Vogel dann zugeben, daß er nur „rein visuell“ festgestellt hat, daß es sich bei der auf dem Video gezeigten „Beschädigung“ nicht um Dreck handeln könne. Trotzdem werden die Turnschuhe zum Hauptbelastungsbeweis für den Staatsanwalt. Der Angeklagte sei aufgrund der „individuellen Beschädigung“ der Schuhe als Werfer identifiziert, argumentiert Schmalzbauer. Er bringt das Kunststück fertig, alle Zeugenaussagen als mit dem Video übereinstimmend zu betrachten und fordert 15 Monate ohne Bewährung. Rechtsanwalt Schwinghammer plädiert dagegen auf Freispruch.

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