Eine Straße wird 400

■ Die Köpenicker Straße ist die älteste staatlich geplante Achse Berlins / Sie prägte entscheidend die Kreuzberger Mischung in der Luisenstadt / Nach der Maueröffnung sind neue Konzepte möglich

Die Köpenicker Straße wird in diesem Jahr 400 Jahre alt. Sie ist die älteste staatlich geplante Straßenachse Berlins, eine 1589 unter Kurfürst Johann Georg angelegte Allee von Berlin zum Köpenicker Schloß - etwa 50 Jahre von Anlegung der Promenade Unter den Linden. Die Öffnung der Mauer am Schlesischen Busch erfolgte pünktlich zum Jubiläumsjahr, ein unverkennbares Geburtstagsgeschenk der Stadtgeschichte an sich selber. Damit ist auch einmal wieder die alte Trasse von Berlin nach Köpenick - sie ist in der Führung bis heute unverändert - wieder nachvollziehbar. Was fehlt, ist bislang die zweite Öffnung, die am zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal, wo die heutige Köpenicker Straße durch die Mauer in Höhe der Schillingbrücke genau in zwei Hälften geteilt wird, eine westliche in Ost-Berlin und eine östliche in West -Berlin. Auch diese Öffnung wird vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.

Ost-westliches Planungsgemeingut

Nun hat das auch einen aktuellen stadtplanerischen Hintergrund, weshalb die 400 Jahre Geschichte rechtzeitig zum Sprechen gebracht werden müssen. Die bereits von Speer im Interessengebietsplan verordnete Ausweitung der Straße zur Schnellverkehrsstraße war bis vor kurzem auch Teil des Flächennutzungsplans und ost-westliches Planungsgemeingut; man sieht das an den weit zurückgesetzten Neubauten der südlichen Straßenseite beidseits der Mauer (Speer wollte, der Genauigkeit halber sei's gesagt, nach Norden hin verbreitern, zur Spree zu). Die Wohnungsmodernisierung ist beidseits seit einiger Zeit am Werke, im übrigen behandelten beide Seiten die großen Flächen als Reservemasse. Während in Ost-Berlin aber nur mit ziemlicher Willkür in die Südseite der Straße etliche Großwohnanlagen hineingestellt wurden, spitzt sich auf Westberliner Seite seit längerem ein Konflikt um die großen Industrieflächen zwischen Straße und Spree zu, die heute weitgehend von der Berliner Hafen- und Lagerhaus-Betriebe (BeHaLa) bewirtschaftet werden.

Daß diese Nutzung ausreichend ist, wird niemand behaupten. Aber diese Flächen für den Wohnungsbau vorzusehen und die Lage an der Spree natürlich für das „Wohnen am Wasser“, das trifft auf den geeinten Widerstand heutiger Kreuzberger Standpunkte und die historische Struktur der Straße selber.

Luisenstadt:

Alte Kreuzberger Mischung

In der Köpenicker Straße wird seit Jahrhunderten gewohnt. Vor allem aber war sie, neben ihren gesellschaftlichen, landwirtschaftlichen und militärischen Funktionen, für ein Jahrhundert die große Industriestraße Berlins und das bürgerliche Rückgrat der handwerklichen Produktionsstruktur der Luisenstadt, des Kreuzberger Kerngebiets zwischen Lindenstraße und Lohmühleninsel.

Im 18. Jahrhundert entstand hier eine multikulturelle Gesellschaft von Handwerkern, Gärtnern und Manufakturisten. Im 19. Jahrhundert war diese Mischstruktur so weit gefestigt, daß die Luisenstadt, das größte damalige Wachstumsgebiet Berlins, in der zweiten Jahrhunderthälfte den ungeheuren Einwanderungsschub aus den Provinzen aufnehmen und verarbeiten konnte, also vor allem mit Arbeit versehen. Arbeit und Obdach fielen dabei oft genug zusammen, bildeten zusammen mit Kirche, Politik, Kultur die Kreuzberger Mischung. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Aber heute dürfte es auch weniger um Traditionspflege gehen als darum, für die heutigen Einwanderer ebenfalls Arbeit, Wohnraum und kulturelle Integration möglich zu machen. Das ist mit bloßem Wohnungsbau nicht zu schaffen.

Eine ausgesprochen bürgerliche Straße

An dieser Stelle verknüpft sich also die Geschichte der Straße mit den heutigen Überlebensanstrengungen des Stadtteils. Wie sie das tut, das ist allerdings komplizierter, als daß man die allgemeine zentral Kreuzberger Thematik einfach auf die Köpenicker Straße übertragen könnte. Die Köpenicker Straße ist nicht das Kreuzberg von Moritz- und Heinrichplatz. Die Straße war gleichsam der bürgerliche Maßstab der Gewerberepublik freier Kleinproduzenten im Inneren der Luisenstadt. Sie war mindestens bis zum Kriegsende ein vorgeschobenes Stück Innenstadt, geprägt vom Geist des industriellen Liberalismus, von Honoratioren, Staats- und städtischen Beamten, jüdischen Fabrikanten, eine ausgesprochen bürgerliche Straße, wie den erhaltenen Häusern heute noch anzusehen ist. Einige Kapitel Berliner Stadt- und preußischer Sozialpolitik wurden hier mitgeschrieben, Selbstverwaltung und industrielle Qualitätsstandards vorgemacht. Die Spannweite des mit dieser Straße verbundenen historischen Personals reicht von Andreas Schlüter, der hier seine letzten bitteren Berliner Jahre verbrachte, bis zu Gustav Stresemann, der hier als Sohn eines erfolgreichen Gastwirts und Bierbrauers geboren wurde. Die Skala der Erfindungen reicht vom chemischen Türkisch-Rot bis zur Knorr -Bremse.

Berliner Musterstadtteil

Dieses Leistungsprofil kann nicht ganz zufällig sein und es erklärt sich, soweit es erklärbar ist, aus der Zusammengehörigkeit mit dem Stadtviertel insgesamt. Bis 1802 Cöllnische Vorstadt, drückte dieser Namenswechsel die Absicht dieses jüngsten der historischen Stadtviertel aus, der Gesamtstadt zu zeigen, was man kann. Das tat man das ganze 19. Jahrhundert über. Die Luisenstadt wurde in Politik, Sozialverwaltung und Gewerbe der Berliner Musterstadtteil. Die intellektuellen und ökonomischen Kader aber, und damit die Maßstäbe, lieferte die Köpenicker Straße.

Daß sie das konnte, liegt zuerst an den großen Grundstücken zwischen Spree und Straße und auch an den tiefen Ackergrundstücken auf der Südseite, die ganz bestimmte Nutzungen und weitblickende Interessenten anzogen. War es bis zum Dreißigjährigen Krieg bei der einfachen Verbindungsallee geblieben, kamen nach Errichtung der Festung die städtischen Holzmärkte, und wenig später legten die ersten Hofbeamten an der heutigen Rungestraße ihre Gartenhäuser an. Nach Niederlegung der Festungswälle ab 1738 siedelten sich die Cöllnischen Manufakturisten und Handwerker an, denen es in der Innenstadt zu eng war. Es kamen Lederfabrikanten und Färber, 1750 wurde die erste Kattunmanufaktur eingerichtet, auf dem heutigen BeHaLa -Grundstück (Nr. 24). Für 120 Jahre wurde die Köpenicker Straße damit der wichtigste Berliner Kattunstandort - die Kattunindustrie war zugleich bis etwa 1850 die größte und kapitalintensivste Berliner Industrie, die durch ihren Bedarf an Maschinen und Chemie andere Industrien in Gang brachte - Berlin war zwischen 1760 und 1870 der wichtigste deutsche und zweitgrößte europäische Kattunstandort.

Niedergang

eines Industriestandes

Die industrielle Nutzung brachte natürlich auch entsprechend rasche Umschwünge mit sich, Abrisse und Neuverwertung. So ist heute nur ein einziger Kattunstandort noch erhalten. Was an die Stelle der Fabriken gebaut wurde, ist zum Teil heute auch schon wieder zerstört. Ebenso räumte der Bombenkrieg die gesamte Militärszene ab, die Kaserne von 1767, die 1929 zu Sozialwohnungen umgebaut wurde, nachdem sie schon ab 1795 längere Zeit als Familienhaus gedient hatte, oder das Montierungsmagazin von Boumann und das große dreiteilige Trainmagazin. Durch den Krieg ging aber, nicht ohne innere Logik, auch fast die gesamte bürgerliche Wohnwelt zugrunde. Das Hauptquartier der liberalen Honoratioren, der Schulze-Delitzsch-Platz, ist erst kürzlich wieder, durch die klobigen Neubauten in Großtafelbauweise, zu einem Platz geworden, Heinrich-Heine-Straße und anliegende Wohnscheiben überdecken ebenfalls ganze bürgerliche Wohnbereiche mit ihrem einst dichten Nebeneinander von Wohnhäusern, Fabriken, Destillen und Hinterhofsälen - auch die Schultheiss-Brauerei kommt aus dieser Ecke.

Wiederentdeckung

ohne eine Konzeption

Vor allem die Fabrikgrundstücke zwischen Fluß und Straße tragen heute noch das historische Erbe dieser preußischen Entwicklungsachse. So ist es überhaupt nicht gleichgültig, wie diese Flächen mit ihrem industriellen Restbestand in Zukunft weiterentwickelt oder neubebaut werden.

In den letzten 40 Jahren ist konzeptionell zu diesem Thema nicht nachgedacht worden. Die Straße dämmerte, trotz einiger Neubauten, vor sich hin und wurde zunehmend ausgedünnt. Erst in den letzten Jahren begann, ebenfalls ohne Konzeption, die Wiederentdeckung als Modernisierungsfall (West) bzw. Wohnbauflächenreserve (Ost, nun auch West). Gerade rechtzeitig erscheint nun der Zugwind des osteuropäischen Umbruchs, um Stagnation und Provinzialismus wegzublasen. Der Straße könnte eine neue Lernphase und eine neue Aufgabe bevorstehen, wenn es darum geht, aus dem Berlin am Tropf bzw. der Stasi-Hauptstadt wieder eine lebensfähige, nicht von Subventionen abhängige Großstadt zu machen.

Dieter Hoffmann-Axthelm