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Gedichte u.a.

■ „Poesie-Agenda 1990“ des orte-Verlags

Gedichte werden mehr geschrieben als gelesen. Es ergeht ihnen da nicht anders als Gebrauchsanweisungen. Ich habe einmal versucht, eine zu lesen, und werde nie wieder soviel Selbstbewußtsein aufbringen, mich durch dieses Gestrüpp aus ganz und gar unbekannten Wörtern und einigen vertrauten Konjunktionen zu schlagen. Daß, wer ein Regal aufstellen will, erst einmal wissen soll, was eine Muffe ist, empfinde ich als arrogant. Noch das elitärste Gedicht arbeitet mit Wörtern, über die einem jeder Brockhaus Auskunft geben kann. Was zum Teufel aber sind Muffen? Angesichts der elitären Arroganz unserer Möbelindustrie kommen mir die Versuche wohlmeinender Lyrikapologeten, Gedichte tümlich zu machen, doppelt lächerlich vor. Einer davon ist das alljährlich erscheinende Kalenderchen Poesie-Agenda des Schweizer orte-Verlags.

Die Herausgeber Werner Bucher und Jürgen Stelling haben auch dieses Jahr wieder einiges Interessantes zusammengetragen. Auf diesen Seiten drucken wir Peter Turrinis Mondlandung ab, weil uns die Geschichte, die Turrini von seinem italienischen Großvater erzählt, von einem alten KPD-Kader aus dem Ruhrgebiet berichtet wurde. Die Verbindung von politischer Verblendung und Altersstarrsinn scheint nicht auf Italien beschränkt zu sein. Über Lenore Kandel steht im Kalender leider nur: „...trat in New York während ihres College-Studiums in einem türkischen Kabarett als Bauchtänzerin auf. Derzeit verschollen.“ Das hier abgedruckte Gedicht ist das erste eines umfangreichen Zyklus, aus dem in der orte-Agenda noch ein weiteres abgedruckt wird.

Neben Gedichten stehen kleine Texte, manchmal witzige Fotos und jede Menge winziger Meldungen, die den gleichgültigen Ton absoluter Beliebigkeit verbreiten: „Frank Wedekind notiert in sein Tagebuch: 'Nach dem Souper durchsuche ich meine sämtlichen Gedichte, kann aber nichts Passendes finden. Ich strecke mich der Länge nach auf den Diwan, aber es gelingt mir nicht, meine Gedanken auf sie zu konzentrieren. Ich schlafe ein.'“ Die Herausgeber sollten etwas tun, damit es uns bei der Agenda 1991 nicht ebenso ergeht.

A.W.

Poesie-Agenda 1990. Herausgegeben von Werner Bucher und Jürgen Stelling. orte-Verlag, 240 Seiten, zahlreiche s/w -Fotos, 17 DM.

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