ABRISSMATISSE

■ „LÜ 21“ - Ausstellung im Abrißhaus

Wann werden deine und meine Altbauwohnungsreservate den archäologisch und ästhetisch geschulten Blicken einer kunstinteressierten Öffentlichkeit preisgegeben? Solches und anderes muß die bewegen, die hier durch die Ausstellungsräume schlendern und noch nicht den Parkplatz fürs Leben gefunden haben.

Wie immer begann alles mit einer Modernisierungsmaßnahme. Die Malerin Elke Schlemmer wollte in ihrer häßlich-sauberen Umsetzneubauwohnung nicht künstlern, sondern begab sich auf die Suche nach einem Atelier, kam an dem bereits zum großen Teil entmieteten Abrißhaus Lübecker Straße 21 vorbei und einigte sich mit dem Grundstücksamt über vorübergehende Nutzung einer Wohnung als Atelier. Flugs veranstaltete sie mit Freunden eine von der sozialen Künstlerförderung unterstützte Ausstellung und entdeckte dabei auch die Schönheiten der leerstehenden Nachbarwohnung.

Die Spuren früherer Bewohner sind hier in abgelösten aufeinandergeklebten Tapeten wie in Jahresringen nachzulesen. Das Projekt LÜ 21 mit den Initiatorinnen Ulli Beckers, Linda Scheckel, Elke Schlemmer treibt zwischen Stilisierung des Verfalls und Würdigung der Über -Lebensversuche der Vormieter sein Spiel mit Übertreibung und Verfremdung: In der Küche werden die großmustrigen Tapeten von gewagtem Geschmack durch Diarähmchen ins Blickfeld gerückt, ein Kartenhaus aus Kohlen, Kartoffeln und Eiern wird durch einen Endlos-Computerauswurf von Kartoffelgerichten ergänzt. Das Bad samt Grillplatz, den ein Vormieter zurückließ, wurde als Gesamtenvironment übernommen, die Toilettenkammer dagegen vollständig zum künstlichen Ort ausgemehlt und angestrahlt. Ein glänzend fahles Weiß korrespondiert mit blau belichteten Putzschäden darüber, aus denen die Strohmasse quillt.

Ihren opulenten Abschluß findet die Ausstellung in einem dekorativen Salon, in dem die Tapetenmuster der ganzen Wohnung noch einmal serienmäßig in der Verkleidung von Stuhl, Tisch und Fensterglas, in Decken- und Bodenbemalung wiederkehren. Die Scheußlichkeit wird zum Matisse: Gerahmte Muster auf Muster geben dem kargen tortenförmigen Erkerraum den letzten eleganten Schliff, und eine eingerahmte aufgeblähte Stelle, wo die Außenwand ins Zimmer bricht, verleiht dem Salon den unverwechselbaren Abrißcharme. Bei der Eröffnung letzten Freitag spielte hier ein Kammerorchester, die Gruppe „Ex Tempore“, im angrenzenden Wohnzimmer gab sie ein Bohrkonzert. Vielleicht überlegt sich der Senat bei der derzeitigen Wohnungsnot den Abriß nochmal und bastelt mit dem angrenzenden Krankenhaus, das auf dem Grundstück eine Umfahrung plant, an einer Alternativlösung.

DoRoh

Zu besichtigen noch heute und morgen 17-20 Uhr in der Lübecker Str.21. Sonntag ab 17 Uhr Finissage, bei der auch die Arbeiten der drei Künstlerinnen in den Atelierräumen von Elke Schlemmer besichtigt werden können.