piwik no script img

Der Traum ist aus!

Aus dem Ostberliner Szeneblatt 'moArning star‘ - ein Abgesang auf Kreuzberg  ■ D O K U M E N T A T I O N

Endlich durften wir es betreten, das sagenumwobene, subkulturelle, ewig revolutionäre SO36! Unsere alten Freunde wollten wir wiedersehen, wir erwarteten ein geiles Feeling mit irgendwelchen superschrägen Typen, den anderen Kiez, den total lockeren, ein Märchenland, wo das Böse mit dem Guten kämpft. Gut, wir trafen unsere Freunde, aber das Feeling - man mußte sich furchtbar berauschen, um es auszuhalten.

Damit man Kreuzberg verstehen kann, ist es nötig, zurückzublicken, weiter als 28 Jahre. Kreuzberg, vielmehr SO36, lag vor dem Mauerbau im Zentrum Berlins. Viele Ostberliner kamen damals abends in die unzähligen Kinos in der Oranienstraße, um sich für eine Westmark einen flotten Film reinzuziehen, oder anderswie dem Ulbricht-Frust zu entgehen. ... Kreuzberg hat kaum Industrie, SO36 überhaupt nicht. So verkam dieses ehemalige Einkaufs- und Billigamüsierviertel. Händler zogen weg, ein Kino schloß nach dem anderen und die Häuser am neuen Stadtrand verfielen. Es war also logisch, daß gerade dorthin irgendwelche Leute zogen, die in Ruhe ihr Ding machen wollten. Vor allem kamen dorthin auch die ausländischen Arbeiter, die man in den rennomierten Vierteln nicht wohnen sehen wollte, und sie brachten damit auch ihre Kultur mit.

So konnte Kreuzberg eine eigene Entwicklung durchmachen, und die massenweisen Hausbesetzungen Ende der siebziger Jahre trugen wesentlich zu dieser gewissen Popularität bei. So blöd das klingt, aber es war gerade die Mauer, die diesem Leben eine Nische schuf. Nun aber, nachdem die Tore geöffnet wurden, strömen täglich Zehntausende DDR-Touries über die Oberbaumbrücke in diesen Kiez, lärmen und trampeln platt, was in den vielen Jahren der Abgeschiedenheit wachsen konnte. Es ist gerade auch an uns, mit unseren Freunden dort weiterzutüfteln, wie dieses Leben dort weiterbestehen kann, ohne es zu einem Freilandmuseum herabzunötigen. Wenn wir keine Idee haben, dann ist dieses „Wunderland“ tatsächlich gestorben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen