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Rockin‘ in the Free World

■ Populäre Musik in den Achtzigern. Noch ein Rückblick

Thomas Groß

Die achtziger Jahre waren im Westen eine Zeit des schillernden Stillstands. Konfrontationen brachten außer Ärger meist nicht viel ein, weil sie von einer inneren Beliebigkeit immer schon ausgehöhlt waren. Was aber lehrt uns dazu die Geschichte der populären Musik? Sie sagt: Genauso ist es, auch wenn es am liebsten ganz anders gewesen wäre.

Doch beginnen wir mit dem Handfesten. Das verstreichende Jahrzehnt brachte die Einführung eines neuen Tonträgers, der CD. Trotz Startschwierigkeiten und kulturkritischen Tönen über die „Entsinnlichung“ des akustischen Datenspeichers erwies sich die CD plangemäß als Hit. Der Hardware-Markt ist noch lange nicht gesättigt, und wenn irgendwann doch einmal jeder einen CD-Spieler zu Hause stehen hat, wird die Industrie das bislang kaum (oder nur für sehr viel Geld) erhältliche Digital Audio Tape folgen lassen. Ähnlich sieht es mit der Software aus. Die Kulturindustrie beschickt die privaten Systeme mit einer Superauswahl digitalisierter Mainstream-Produkte, deren rausch- und randomfreier Sound die Mehrzahl der Kunden momentan noch über die weitgehende Austauschbarkeit der Essenzen hinwegtröstet. Wer dennoch unzufrieden ist, dem bietet ein reichhaltiger CD -Back-Katalog die Möglichkeit, die Sternstunden seiner Pubertät nochmals klangrein nachzuerleben. Per Knopfdruck ist vor allem der Wechsler-Besitzer souveräner Programmchef unvergeßlicher Momente.

Soweit läuft alles optimal. Doch wo bleibt der Protest? Wer vom Pop redet, darf eigentlich vom Mainstream nicht schweigen. Und Mainstream ist seinem Wesen nach Muzak, d.h. bewußtlos machende Beschallung und Einübung neuer Körpergesten. Dennoch gibt es bei vielen Pophörern, als Erbe individuell erfühlter wie legendär ererbter Glücksmomente (der erste Beischlaf, das verrückteste Besäufnis, die erste vom großen Bruder gehörte Platte u.ä.), die eingefleischte Neigung, dem Kapitalismus auf dem Gebiet seiner größten symbolischen (und nicht nur symbolischen) Exploitation kulturrevolutionäre Aspekte abzutrotzen. Wenn die Industrie die Geister, die sie rief, nicht mehr loszuwerden scheint, wenn sie Hedonismus ruft und zur Antwort Revolte erhält, dann ist die Rede vom GROSSEN DING.

Welches GROSSE DING bescherten uns die Achtziger? Da kommt man schon ins Grübeln. Da war doch mal was! „New Wave“? Nix da, werden einige sagen, Punk sei es gewesen, New Wave schon Degeneration. Punk war tatsächlich die letzte Bündelung schmerzhaft-authentizistischer Körpergefühle, doch erst New Wave bescherte die eigentliche kritische Attitüde des Jahrzehnts: die Subversion. Fortan galt es nicht mehr als cool, hot zu sein, seine Jugend im direkten Ansturm gegen alle Widerwärtigkeiten des Allgemeinen zu verpulvern, sondern sich zurückzulehnen und am Glas zu nippen. Diese im Grunde in den 70ern (Bowie mimt sie in Der Mann, der vom Himmel fiel, 1976, in fast allen Punkten vorweg) entstandene Attitüde kam in den 80ern als „Lebensgefühl“ breit an, unterstützt durch einen ziemlich dreist aus Elementen hauptsächlich französischer Theorie zusammengeklauten Subversionsdiskurs. Leider erwies sich diese zunächst von Hamburg ('Sounds‘), später variiert von Köln ('Spex‘) ausgehende Theorie zu einem Movement, dessen Ideal nicht mehr Sichtbarkeit/Stärke/Power sein sollte, sondern ein Stratifizieren erlesener geschichtlicher Abfälle, als derart subversiv, daß sie an vielen gänzlich spurlos vorüberging. (Und das ist ein Glück! d.S.) Das Erstehen eines dreieckigen Ohrclips und Ausführen desselbigen am lackierten Tresen war auch eine Art, on Wave zu sein. Der ausgeklügeltste und der platteste Gestus waren auf eine rätselhafte Art oberflächenidentisch. Was blieb, war zum einen die sattsam bekannte Zeitgeistästhetik („Zeitgeist“ - auch so ein Sozialpatent dieser Jahre), zum anderen ein neues Paradigma des Schreibens über Pop, das in der Folge Standard wurde.

„Mikropolitik“, „Implosion“ und „Simultation“ waren die intellektuellen Modeworte, deren Evidenzwert sich allerdings nach kurzer Zeit darauf beschränkte, „irgendwie“ camparihaft zum Ausdruck zu bringen, daß die Zeiten schwieriger und diffuser geworden sind. Aus Subversion wurde Post-Histoire.

Aber, wird es jetzt heißen, das war doch alles schon ganz zu Anfang der Achtziger, Punk ja „eigentlich“ schon 77! Danach kam nichts mehr?! Zumindest nicht das GROSSE DING, nach dem unablässig gefahndet wurde. Zu Ende der 80er mehrten sich die Stimmen, die darauf beharrten, der schwarze Hiphop sei das neue GROSSE DING. Tatsächlich trat Hiphop, was die Härte und den sozialen Hintergrund seiner Rhetorik anbelangt, das Erbe einer totgeglaubten Bindung an die Sprache der Straße an. Insofern verweist er auf die Hochzeit der Fusion von Empörung, Politik und Musik, die späten 60er (eines der bekanntesten Hiphop-Cover zitiert eine Malcolm-X -Pose). Hiphop hat allerdings eine Reihe unübersehbarer Nachteile. Nicht nur produziert er, gewissermaßen als Kinderkrankheit seines Radikalismus, Sexismus und Antisemitismus (Public Enemy), er verunmöglicht dem weißen Jugendlichen (der immer noch weltweit den Markt beherrscht) letztlich auch die aktive Teilhabe an seiner Formensprache. Während der Rythm'n'Blues über die besondere Gunst der Geburtsstunde des Rock und seiner Entwicklung von vornherein eine Spur ins Teenagerherz grub, die sich mit viel Gitarreüben und Kaugummikauen in ein waschechtes weißes Bluesfeeling hineinentwickeln ließ, gibt es bis heute, trotz Greifbarkeit der Technologie, keine weiße Spielart des Hiphop (Ausnahme: Beasty Boys). Der Vorteil dieser Musik ist (speziell für den europäischen Jugendlichen) auch ihr Nachteil: Wer sich subversiv involviert fühlen will, muß entweder sehr naiv sein oder in der Lage, um fünf Ecken zu denken. Dann aber könnte er, vom Groove abgesehen, auch gleich Victor Jara hören und sich in der Lateinamerikagruppe engagieren (wogegen der Pop-Dandy nun einmal einen tiefen Widerwillen verspürt). Schwere Zeiten. Die Brothers und Sisters machen ihr Ding lieber alleine, und das ist auf die Dauer kränkend, ganz abgesehen davon, daß Kangol-Hütchen und Trainingsanzüge an weißen Gymnasiasten bescheuert aussehen, womöglich sogar zu Konflikten mit echten (weißen) Proleten führen könnten, die sich nachgeäfft fühlen. (Soweit, sich schwarz einzufärben, ging dann doch keiner.)

War es das schon? Nicht ganz. Denn natürlich beschränkte sich die Auswahl in den 80ern nicht auf die beschriebenen Alternativen. Wer auch unterhalb realsubversiver Strategien seinen Spaß suchte, dem bot sich eine reichhaltige Palette. Es war alles zu kriegen, Trinkerfolk (Pogues), Soulfolk (Dexys), Politfolk (Redskins), Folk-Pop (Go-Betweens), Krankes-Herz-Pop (Smiths u.v.a.), Feedback-Pop (Jesus & Mary Chain), Velvet-Underground-Pop (viel, viel!), Songdrechslerhandwerk (Costello, Prefab Sprout), Heimarbeiter-Liedkunst (XTC, Cleaners from Venus), Elektronische Body-Musik, Musik mit eingebautem Faschismus -Verdacht (Laibach), New Age-New Wave, fröhlich (B 52s, Sugarcubes), New Age-New Wave, düster (Cure, Siouxsie, Sisters of Mercy), verschiedene Ethno-Varianten (inkl. „Weltmusik“), Rock-Rekonstruktionsversuche (Grebo, Heavy Metal, Speed Metal u.ä.), Rock-Dekonstruktionsversuche (A.R. Kane, My Bloody Valentine), Kiwi- und Känguruh-Rock, Neues Amerikanisches Holzfällertum, Popjazz, Techno, Acid House, und und und, gegen Ende des Jahrzehnts sogar einen rührenden Aufstand alter Männer (Neil Young, Lou Reed, John Cale - von McCartney schweigen wir). Keep on rockin‘ in the Free World, sang Neil Young, I started something I couldn't finish die Smiths, eine Band namens They Might Be Giants dagegen nur noch Youth Culture killed my dog. Das alles ging zusammen. Weitgehend problemlos. In der Kneipe, in der ich mein Bier trank, saß (und sitzt) der Sixties-Beat-Club gleich neben dem Buddy-Holly-Memorial-Verein und den Gay Bikers Emmendingen, die nach Einnahme mehrerer Getränke jeweils sittsam vom Gehöft reiten.

Ein kulturrevolutionäres Feeling sprang dabei nicht mehr heraus. Als deutlichste Strömung zeichnete sich (als Reaktion auf New Wave) noch eine Rückkehr zu Organizitäts und Ehrlichkeitsinsignien ab, (Hilfe! Ich halte diese neuen Wortschöpfungen im Kopf nicht mehr aus! Schluß! d.S.) wie sie auch in der Kleidermode Ausdruck gefunden hat. Diesel River hieß die erste Platte einer eher unbedeutenden Band mit dem bedeutsamen Namen Weather Prophets. Aber die Letzten waren in diesem Jahrzehnt oft die Ersten. Die 80er brachten in der zweiten Hälfte Diesel-Jeans (die den Punk-Iro im Signet mit sich führten), Diesel-Ästhetik, Lokomotivführermode, Handcraft-Look. Natürlich auch Handcraft-Bands. Der Cowboy kehrte aus der Gruft zurück, teilweise bewaffnet mit Verzerrern, Wahwah und sonstigem Schmerzgerät, schoß aber nur noch mit halber Kraft. Die Kontrahenten waren nicht erreichbar, weil sie sich auf ganz eigenen Zeitstrahlen bewegten.

In dieses Panorama der Beliebigkeit versuchte der avancierte Pop-Diskurs sich selbst als Zentralinstanz künstlich einzuführen, indem er am Horizont auftauchende Phänomene zunächst mit Bruderkuß umarmte, um sie zwei Monate später als Verräter an der Sache gnadenlos hinzurichten. Das war der Pop-Stalinismus jener Jahre, eine Art imaginäre westdeutsche SED („Stalin“ war eines der Pseudonyme von Dietrich Diederichsen). In vieler Hinsicht war er tatsächlich ein Gespenst, das, zumindest im Sinne seiner Erfinder, dem posthistorisch gewordenen Pluralismus des Westblocks schlaflose Nächte bereiten sollte. Sein Potential war die Jugend, der er unerhörte Widerstandsfiguren abzulauschen versuchte, um es dann doch besser zu wissen. Als Zerrbild des Weltgeistes wütete er rhetorisch in einer Erscheinungswelt, um sie einer kaum noch bestimmbaren Linie gefügig zu machen. Was heute noch gut war, war gestern schon wieder schlecht, und das - mitgefangen, mitgehangen relativierte auf Dauer den Pop-Stalinismus selbst. Er wurde von der stehenden Entwicklung überholt und siecht heute dahin: Wärmetod.

Denn in den achtziger Jahren war es heiß, kalt und beides zugleich. Wie im Kino. Vor allem in der Werbung. Es konnte im Hauptfilm noch so staubig hergehen, nebenan oder vorneweg tobte immer schon Pop-Swatch mit allerfeinster schweizerischer Post-Wave-Ästhetik. If you've got Cointreau, I've got the ice! Man schwitzte trotzdem; oder deswegen. Grundlegend verschiedene Zeiten im Körper von jedem brachten die alte Coolness zum Schmelzen. Das Resultat fühlte sich ganz ähnlich an. Am besten zeigte es die Langnese-Reklame. Hitze. Alles stöhnt. Es ist ewiger Sommer. Ein Mann ist im Sand vergraben. Eine Kinder-New-Wave-Band gestikuliert wie verrückt. Ein nackter Busen blitzt verschämt auf (Aids!). Ein Mann leckt das alte Dieselöl vom Schraubschlüssel, und das Kino lacht. Immer wieder. Eine große Welle kommt und spült das Eis hinweg. Auf wundersame Weise erscheint es in der Tür wieder, wo die Kinofrau mit einem Korb wartet. Eis gefällig?

Abgekauft wurde dann doch nix. Zumindest hielt das Zeug meist nicht, was es versprach, und der Begleittext machte es kaum attraktiver. Pop Ende der 80er, mitsamt seinen kulturinterpretativen Anhängseln: das reißt niemanden so recht mehr vom Hocker. Und die momentane politische Entwicklung wird ein übriges tun, den dandyistischen, verträumten, nach Geheimbedeutungen suchenden und in (jugendlichen oder nicht mehr jugendlichen) Geheimbünden organisierten Blick auf soziale Phänomene weiter in der Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. Der Dandy geht, Kohl bleibt. Der Osten leuchtet, er hat Seele. Deutschland hat jetzt seinen eigenen Hiphop. If you've got the soul, we've got the rhythm! Alles schaut dorthin, wo die Brothers und Sisters noch gar nicht so recht wissen, wohin der Zug geht, aber schon Schlimmes ahnen. Die Supersounds, auch wenn sie nach Marschliedern klingen, sind auf rechter Seite. We are the world, we are the people, zumindest the European House. Was den Subversions-Pop, wie viele andere, auf dem falschen Fuß erwischt hat: Es wird wieder Geschichte gemacht, es geht voran. Dem renitenten Westjugendlichen ist darin (außer Akklamation) zunächst keine Rolle zugedacht. Seine kleinen Störgeräusche werden für stabile Ohren gut überhörbar sein. Semantik-Blues. Die Pop-Pirouette dreht sich vorläufig aus.

Das Wetter für morgen? Vielleicht so: Geschichtsbewußtseinstaumel zieht erst mal weiter über die (westlichen) Verkehrswege. Aufbruchsbewegungen in einen neuen Westen auf den meisten Kanälen. Ein gehöriges Potential sozialismushassender Ostbürger unter der Regie hiesiger Schlagzeilenkommentatoren entdeckt die Warenwelt wieder „eigentlich“, was zur Folge hat, daß es der Pop -Subversion auch weiterhin geht wie der SED. Stalinismus ist endgültig out. Die Independent-Lager werden sich zunächst weiter auseinanderdividieren und die Wunden lecken, während der Hauptstrom unisono im Chor singt. Ostrock wird heim ins Reich geholt. Möglicherweise wird es zu einigen fürchterlichen Exzessen im Bereich des spätchristlichen Bekennerpop und/oder Betroffenheitspop kommen. Die Pop -Subversion schweigt dazu zwangsläufig und dialektisch. Manche lesen Marx.

Ab 1995 ist dann subkulturell wieder mit einem kräftigen Aufwind zu rechnen.

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