: Fluggeschichte: Das Gras abbeißen
■ MBB-Arbeiter schrieben für Steintor-Verlag Geschichte des Bremer Flugzeugbaus / Sehr empfehlenswert
Sechs Jahre lang haben Mitarbeiter der Bremer MBB-Werke der Geschichte der Bremer Luftfahrtindustrie hinterhergeforscht. Ergebnisse: Eine Ausstellung und jetzt das Buch: „Wellblech und Windkanal“. Angefangen hat die Geschichte mit Flugexperimenten vor dem ersten Weltkrieg. Geendet hat sie bis heute noch nicht. Ihr roter Faden: die Waffenproduktion vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik.
Gespenstisch aufgebläht war sie unter dem Hakenkreuz. Die Bremer Werke Focke-Wulf und
Weserflug kontrollierten im zweiten Weltkrieg bis zu 120.000 Arbeiter in ganz Europa. Die Stammbelegschaft in Bremen fühlte sich als Arbeiter-Elite: Technisch hochqualifiziert und von der Fliegerei begeistert. Niemand konnte nach 1933 eine Lehre in den Flugzeugwerken beginnen, der nicht der Flieger-HJ angehörte, einer Sonderformation der Hitlerjugend. Das Regime über die Flugzeugbauer war so streng wie in anderen Betrieben auch, aber sie genossen auch Privilegien: Nicht so schwere und
schmutzige Arbeit wie etwa im Hafen, bessere Sozialleistungen und umfangreiche nationalsozialistische Kulturarbeit: Betriebssport, Akkordeon-Gruppen. Ein Variete unter dem Titel: „Lustige Weserflug-Gesellen“ trat noch in den letzten Kriegsmonaten auf, als die Entwicklungsabteilung schon aus dem bombengefährdeten Bremen ins Kurhotel von Bad Eilsen verlagert worden war. In den Akten der Bremer Gestapo hat der Arbeiterwiderstand zum Beispiel auf den Bremer Werften und bei Borgward Spuren hinter
lassen. Über die Flugzeugwerke ist dort nichts vermerkt.
Nach 1945 lagen die stolzen Waffenfabriken in Schutt und Asche. In den Trümmern wurden zunächst nur nützliche Dinge hergestellt: Kochtöpfe, Bettstellen, Prothesen für die zerschossenen Glieder der heimkehrenden Soldaten. Chefkonstrukteur Kurt Tank und mit ihm fast der komplette Entwicklungsstab von Focke-Wulf hatte sich auf verschwiegenen Wegen nach Argentinien abgesetzt, um für Peron und seine Generale einen Düsenjäger zu bauen. Mit von der Partie war damals Ulrich Stampa, der 1987 bei Bürgerschaftswahl als Spitzenkandidat der rechtsradikalen Deutsche Volksunion - Liste D (DVU) auftrat. Nach der Rückkehr aus Argentinien hatte er bei VFW und - später auch nach der Übernahme - MBB bis zur Rente gearbeitet.
1953 ging es in den Bremer Flugzeugwerken mit der Waffenproduktion wieder los, und die alten Fachleute aller Ebenen fanden sich wieder ein. Nicht nur die Unternehmer hatten sich dafür eingesetzt. Auch der sozialdemokratisch geführte Bremer Senat unter dem legendären Wilhelm Kaisen hatte mit ihnen an einem Strick gezogen.
Waffen werden in den heutigen MBB-Werken noch immer produziert. Die Autoren der Betriebsgeschichte finden, daß das Denken der Rüstungsarbeiter noch die gleichen Blindstellen aufweist, wie das ihre Väter wäh
rend der Hitlerzeit. Manfred Fittkau: „Die sagen: Das kommt von oben, ich verdiene mein Geld damit. Aber, was sie bauen, das sparen sie gedanklich aus.“ Auch, als sie anfingen, die alten Geschichten auszugraben, stießen die Autoren auf Widerstand bei manchen Kollegen: „Ihr beißt das Gras ab, das gerade wächst! “ Und das Archiv des Betriebsrats wanderte auf Anweisung des Betriebsratsvorsitzenden Ludwig Ladewig gerade in den Reißwolf, als sie anfangen wollten, darin herumzustöbern. Dieter Pfliegensdörfer von der Bremer Uni, der die Arbeiter-Autoren unterstützte: „Manche Betriebsräte wollten uns das Wasser abgraben, wo es nur ging.“ Trotz aller Mühen sind die Autoren stolz auf ihr Buch. Manfred Fittkau: „Am ersten Tag haben wir 85 Stück im
Betrieb verkauft. Viele Kollegen haben uns auf die Schulter geklopft: 'Das habt ihr gut hingekriegt‘. Da wächst man ein bißchen.“
Zum Wachstum beigtragen haben - ungeachtet der betriebsrätlichen Zurückhaltung - die IG Metall und die beiden Arbeitnehmerkammern mit Geld. Der Steintor-Verlag hat für eine edle Gestaltung gesorgt. Für ihn ist es nach langer Zeit eine Rückkehr zum Eigentlichen: Gut lesbare, politisch bildende Heimatgeschichte.
mw
Wellblech & Windkanal
Arbeit und Geschäfte im Bremer Flugzeugbau von den Anfängen 1909 bis heute
Projektgruppe Betriebsgeschichte
steintor-Verlag, 144 Seiten, viele Fotos, 36 Mark
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