piwik no script img

„Von kommunistischen Ideen bleibt nichts übrig“

Jak Saarnit, Sekretär für Ideologiefragen im Stadtkomitee der KP der estnischen Hauptstadt Tallinn, zu der zukünftigen Bedeutung der Kommunistischen Partei in Estland / „Die Mehrheit ist für eine selbständige KP“  ■ I N T E R V I E W

taz: Ihr Parteichef, Vajno Väljas, hat kürzlich für Estland eine Entwicklung wie in Litauen vorausgesagt. Was treibt die baltischen KPs um?

Jak Saarnit: In den KPs aller Sowjetrepubliken wird zur Zeit sehr ernsthaft diskutiert, wie wir weiterexistieren sollen. Bei uns im Baltikum macht sich dabei die Nähe zu Skandinavien bemerkbar, zu den dortigen sozialdemokratischen Erfahrungen. Außerdem erzeugen die Entwicklungen in Polen, Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei natürlich hier Widerhall. Es stellt sich nicht nur das Problem der führenden Rolle, sondern auch die Frage nach dem Aufbau der KPdSU. Dasselbe Verwaltungs- und Kommandosystem, das die kommunistischen Parteien formte, hat ja die gegenwärtige Krise unserer Gesellschaft verursacht. Die Repressionen in der Stalin-Zeit haben dazu geführt, daß unsere estnische Partei etwa 90 Prozent ihrer nationalen Kader verlor. Erst seit zwei Jahren beschäftigen wir uns mit Problemen, die die Esten wirklich bewegen: den Fragen der Staatssprache und -bürgerschaft und der ökonomischen Selbständigkeit.

Hat diese Linie die Mehrheit?

Vor allem Veteranen und hier stationierte russische Soldaten wollen, daß alles so bleibt, wie es ist. Wieder andere wollen die Grundorganisationen nach ungarischem Vorbild in eine „sozialistische Partei“ eingliedern, und unsere populären Radikalen wollen eine eigene KP, die mit der Moskauer Partei überhaupt nichts zu tun haben soll. Im Moment ist auch bei uns die Mehrheit für eine selbständige estnische KP, die ihre eigene Politik macht, ohne daß sie sich dabei von der KPdSU zwanghaft abgrenzen müßte. Die Entscheidung in Litauen wird hier für mächtigen Auftrieb sorgen. Hemmend wirkt sich aber aus, daß über die Hälfte unserer Mitglieder Russen sind. Leider folgt das Votum für einen Parteityp fast automatisch aus der Nationalität.

Wieso sind die Russen so überproportional in der Partei vertreten?

Bei dem noch jüngst existierenden stalinschen Nomenklatura -System wurde uns von Moskau nicht nur diktiert, wieviele Russen, Ukrainer oder Esten Posten bekommen, sondern auch, wieviele Frauen oder Komsomolzen. Über unsere Kandidaten zu den Gemeindewahlen am 10. Dezember haben wir erstmals demokratisch abgestimmt. Aber was wir mit unseren Mitgliedsbeiträgen anfangen wollen oder welche Art von Propaganda uns Spaß macht, können wir nicht selbst entscheiden. Unsere städtische Parteizeitung hier in Tallinn bringt zum Beispiel jährlich 1,7 Millionen Rubel Gewinn, die geschlossen nach Moskau wandern. Wenn wir diese Probleme nicht bald lösen, sind wir mit Organisationen wie den Volksfronten oder Interfronten einfach nicht mehr konkurrenzfähig.

Und wann könnten Sie die Probleme lösen?

Ich hoffe, daß wir hier nach den Wahlen zum estnischen Obersten Sowjet im nächsten Jahr ein Mehrparteiensystem einführen können. Wünschenswert wäre dann parallel dazu ein neuer Aufbau der KPdSU als Konföderation souveräner Parteien. Dies würde Nationalitätenprobleme entschärfen und die Rückkehr zu einem totalitären System unmöglich machen.

Was könnte die estnische KP vor Sozialdemokraten und anderen Parteien auszeichnen?

Eines ist mir völlig klar: Von den klassischen kommunistischen Ideen wird in unserem Programm absolut nichts mehr übrig bleiben. Wir müssen in erster Linie einen demokratischen Sozialismus und einen selbständigen estnischen Staat aufbauen. Dabei wollen wir Gorbatschows Perestroika unbedingt weiterhin unterstützen, aber als wirtschaftlich selbständige Konföderationsmitglieder - damit wir die Rezepte für die Torten in unseren Konditoreien und die Schnitte für unsere Männerhosen uns nicht mehr auf irgendwelchen Moskauer Korridoren bestätigen lassen müssen.

Interview: Barbara Kerneck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen