: „Leo, war das dumm von mir?“
■ Kleine Coitus-Chronik der achtziger Jahre - vom Berliner Autor Detlev Meyer, alias Leo Latex, Kondom-Koryphäe zu Kreuzberg / Ewig währende tote Hose bei den Stinknormalen - Maulhurerei und erotische Radikalismen bei den Homos
Habt ihr am 1. Januar 1980 anders gebumst als am 1. Januar 1990? fragt Leo bei einem befreundeten Ehepaar an. Bitter lacht Inge: Neujahr passiert bei uns gar nichts. Da liegt Eberhardt auf Eis und schwört, nie mehr einen Tropfen Alkohol anzurühren. Leo, der über das veränderte Sexualverhalten im zurückliegenden Jahrzehnt zu recherchieren hat, insistiert: Aber am nächsten Tag, da habt ihr's doch sicherlich getrieben? Wenn's ein Samstag war..., sagt Inge. Aha, notiert Leo, am heterosexuellen Weekend-Fick hat sich also nichts geändert; dieses eherne Naturgesetz scheint alle Zeitläufe zu überstehen. Am Samstag steigt der Stino (der Stinknormale, wie wir uns erinnern) auf seine Alte - oder ist die Missionarsstellung dem Mittwoch vorbehalten? Denn auch an diesem Tage rappelt's bei den Heteros in der Kiste; nicht so wild und ausdauernd wie am Samstag (unter ausdauernd versteht der normale Mann jedes Vögeln, das länger dauert als eine Folge der „Nachtgedanken“ im Ersten), aber schließlich kann auch eine Ejaculatio praecox tierisch geil sein, gell?
Davon wissen die Giganten des normgerechten Rein und Raus alle ein Liedchen zu singen, stimmt's? Inge, diese tapfere, kleine Frau an der Seite dieses - von einem übrigens total unberechtigten Dödelstolz - verblödeten Sozialpädagogen Eberhardt, sagt, bitterer denn je: Ach, Leo, schau bei den Schwulen unter die Bettdecke. Bei uns tränen dir nur die Augen vom Gähnen. Mein Ebi liebt es, nackt zu schlafen, wenn der wüßte, daß er seit zehn Jahren in einer toten Hose steckt... Und Leo, diese geräumige Kummerecke für vernachlässigte Frauen, der warmherzige Bruder Leo, gegen den Antje Vollmer kalt wirkt wie eine Hundeschnauze, fragt sacht, Inges Hand haltend: Stöhnt Eberhardt immer noch sein Spürst-du-mich, spürst-du-mich?
Nun weint Inge (bitterlich, wie sonst?): Leg du dich mal unter einen aufgeregt zuckenden Fleischkloß, den würdest du auch nicht ignorieren können. Nur gut, daß es immer so fix geht!
Soviel von Heterosexuellen und deren unergiebiger Schmalspur-Lust. Über Veränderungen bei der normalen Sexualität gibt es kaum etwas zu berichten, dieses ermüdende Fortpflanzungstraining lähmt selbst das Aids-Virus. Eberhardt und die Lustseuche? Ach Gottchen, davon träumt der nur. Wenn der Stino nicht gerade von einer infizierten Einweg-Spritze gepiekt wird, bleibt er unerbittlich gesund. Leo findet das entsetzlich öde.
Er konkludiert: Sehr leise und sehr selten quietscht die Hetero-Sprungfeder bzw. raschelt der Futon. Nun gut, es kann schon mal vorkommen, daß Inge, Ebi und ihresgleichen nach einer Flasche Mumm (den interessanterweise vor allem Stinos für einen trinkbaren Schaumwein halten) sich zu erotischen Tolldreistigkeiten wie der Reiter-Stellung hinreißen lassen, das heißt also sie auf ihm wippend, er Mama-Mama wispernd, an ihren Brüsten nuckelnd. Das passiert, wie gesagt, schon ab und an, aber stets in derselben Besetzung, stets die tapfere Inge auf dem schlaffheitsgefährdeten Eberhardt. Gib Aids keine Chance... Wenn Inge die gleichnamigen Werbespots sieht, fragt sie sich (ja, bitter): Wie sollte ich? Auf dem Solidaritätsfrühstück für die Swapo kann ich es mir ja wohl schlecht holen, und bei unseren basisdemokratischen Resolutionsorgien geht mir auch kein Fremder unter den Rock. Arme Inge, denkt Inge, gefeit, aber frustriert. Eberhardt jedoch hat panische Angst. In jedem Quartal unterzieht er sich bibbernd einem Aids-Test; alle drei Monate hockt er im Tropeninstitut, neben anatolischen Patriarchen, die Allah anrufen, auf den harten Holzbänken und bittet um Vergebung seiner Sünden.
Leo fragt: Welche meinst du bloß, dummer Ebi? Daß du dich nachts heimlich mit dem Otto-Katalog im Klo einschließt und dir auf die Abbildungen kleiner Mädchen in Baumwollhöschen einen runterholst, wird jeder deiner Veranlagungs-Kumpanen verstehen und verzeihen. Ebi, es gibt Schlimmeres.
Nun ist der ganz zerknirscht und meint, Freud zitieren zu müssen: Wir sind alle polymorph pervers! Schallend lacht Leo: Du doch nicht, Schäfchen! Deine Libido ist so schlicht ausgefallen, daß im Vergleich dazu das Liebesleben der Ameisen abgründig erscheint. Füg dich drein, Eberhardt, du bist unheilbar immun! Nach der Pflicht die Kür, sagt sich frohgemut Leo und sucht die Schwulen auf, goes to where the action is, sozusagen.
Soll ich dich anpissen oder willst du einen Tee? wird er von Jens gefragt - Jens, dem anderen Namen für Schwanz, wie es in der Szene heißt. Immer langsam mit den jungen Hengsten, antwortet Leo, der Jensens Maulhurerei als ein Zeichen veränderten Sexualverhaltens zu deuten geneigt ist. Wenn den Worten keine adäquaten Taten mehr folgen dürfen (oder sollten, lieber Jens!), gefällt sich die Sprache in erotischen Radikalismen, die nur das Echo sind unserer ehedem verfickten Jahre.
Leo hielt sich gerne bedeckt, verschwieg lieber die furchtbaren Fakten: Jeder Schwule hatte am 1. Januar 1980 zehn Sexualpartner, von denen er - statistisch gesehen - 3,5 bumste, 7,5 oral befriedigte, einen faustfickte, nicht einen küßte und alle am 2. Januar schon nicht mehr kannte. Alle zehn Mann hoch übrigens drangen rektal in die homosexuellen Neujahrsficker ein, aber das versteht sich wohl von selbst.
Diese und die folgenden Zahlen verheimlichte Leo gerne, aber Leo fühlt sich der Wahrheit und der Aufklärung verpflichtet. Darum auch dies: Am 1. Januar 1990 hat jeder Schwule zehn ehemalige Sexualpartner auf den Intensivstationen der Aids-Kliniken in Stadt und Land besucht. 3,5 der Erkrankten ging es dreckig, 5,5 sehr dreckig und - statistisch gesehen - ringt einer mit dem Tode. Dessen mutmaßlich letzten Worte lauten: Ich weiß heut‘ noch nicht, wie ein Kondom aussieht, und geschluckt habe ich, bis ich eingeliefert wurde. Leo, war das dumm von mir?
Detlev Meyer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen