: Rennen ohne Grenzen
■ Gestern startete nach 40 Jahren erstmals wieder ein Gesamtberliner Lauf Von der Straße des 17.Juni starteten 30.000 und rannten durchs Tor
Am Tag nach der Silvesterfeier der „Nacht der Nächte“ liefen rund 30.000 Teilnehmer beim größten Lauf der Welt, dem nach 40 Jahren Pause wiederaufgenommenen Gesamtberliner Neujahrslauf „Quer durch Berlin“ von der Straße des 17. Juni unter dem Brandenburger Tor hindurch auf den Ostberliner Boulevard Unter den Linden und wieder zurück. Auf den sechs Kilometern trugen sechs junge Westberliner mit Zylinderhut und Frackjacken einen schwarzen Sarg mit einem großen Mauerstück an Zehntausenden von Zuschauern in beiden Teilen Berlins vorbei.
Spontan schlossen sich auf West- und Ostberliner Gebiet viele Passanten für eine Weile dem Lauf an. Es ging nicht um Sieg oder Platz, nur die Teilnahme zählte. Arm in Arm schritten Ingo Pluczinski (West-Berlin), Jonathan Grix (London), Lars Zeutschel (Teltow/DDR) und Kemal Yazid (Paris) unter dem Jubel der Zuschauer nach ihrer Rückkehr aus Ost-Berlin über die Ziellinie auf der Straße des 17. Juni.
Den Startschuß hatten gemeinsam die beiden Stadtoberhäupter Erhard Krack und Walter Momper gegeben. Der Regierende Bürgermeister schoß, der Kollege aus Ost-Berlin hatte ihm die Pistole gereicht. Noch zwei Tage vor der Zeremonie war großes Rätselraten in der Senatskanzlei über das Procedere des Startschusses. Sollen beide Stadtoberhäupter schießen? Wenn ja, mit einer Pistole oder mit zweien? Man einigte sich diplomatisch. Dann setzte sich die unübersehbare Masse in Bewegung, Richtung Brandenburger Tor, wo der „normale“ Ein und Ausreiseverkehr vorübergehend zum Erliegen kam. Die auf der Brust befestigte Startkarte war für die Läufer Reisepaß und Zählkarte zugleich. Es war wie bei der überschäumenden Feststimmung in der Nacht vom 9. zum 10. November, als die Mauer fiel, und vom 22. Dezember bei der Eröffnung des Tores: Kontrollen gab es praktisch nicht mehr.
So konnten auch Ausländer, darunter viele alliierte Soldaten, als Sportler die Übergänge passieren. Die Begeisterung war riesig, die Stimmung stellte selbst die Atmosphäre beim „Berlin-Marathon“ in den Schatten. Viele Menschen lachten und sangen vor Freude trotz des ungemütlichen Wetters während des Laufes, andere trugen Transparente. Walter Freehse von Fortuna Biesdorf aus der DDR ließ acht Tauben als Friedenstauben fliegen. „Greetings from Chicago, Happy New Year“ wünschten Amerikaner. Der Israeli Dani Danieli aus Jerusalem lief mit seinem Schäferhund „Boni“ mit. Ein Italiener lief mit der olympischen Fahne.
Organisator Horst Milde war glücklich. Er sagte: „Mit diesem Lauf ist ein Traum in Erfüllung gegangen. 40 Jahre haben wir diesen Augenblick herbeigesehnt. Der Lauf hat historische Dimensionen. Er wird als Lauf des Friedens, der Freundschaft und der Freiheit in die Geschichte eingehen.“ Milde bewertete den Lauf außerdem als „Meilenstein auf dem Gebiet des Sports in beiden Teilen Berlins.“ Obwohl der Lauf keinen Wettkampfcharakter hatte, kann die Veranstaltung als Modell für einen gemeinsamen „Berlin-Marathon“ in beiden Teilen der Stadt schon für 1990 betrachtet werden. Eine Gruppe von Läufern aus Ost- und West-Berlin hatte sich unter dem Transparent zusammengetan „Marathon - Freundschaft und Frieden in beiden Teilen Berlins“
dpa
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