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Todeskluft, Hooligan-Gipfel und Olympia 2000

Ein prophetischer und trüber Ausblick auf das an spektakulären Ereignissen reiche Sportjahr 1990  ■  Von Matti Lieske

Wengen, 27. Januar: Voll auf ihre Kosten kommen die 70.000 Zuschauer beim traditionellen Lauberhorn-Rennen im schweizerischen Wengen. Für eine bisher bei Abfahrtsläufen beispiellose Attraktivät, gegen die selbst der berüchtigte „Kamelbuckel“ von Gröden verblaßt, sorgen vor allem zwei 70 -Meter-Sprünge und die sogenannte „Todeskluft“, eine künstliche, 30 Meter breite Gletscherspalte, an der das nervengekitzelte Publikum immer wieder in begeisterte, atemlose „Aaahs“ und „Ooohs“ ausbricht. Trotz zahlreicher Vermißter wird das Rennen bis zum Ende durchgeführt, auf entsprechende Kritik reagieren die Veranstalter unwirsch: „Diese Strecke ist nicht gefährlicher als andere. Wer Augen hat, konnte sehen, daß die Abstürze auf reine Fahrfehler zurückzuführen waren.“ Sieger des Rennens wird Matti Nykänen aus Finnland.

Genf, 7. Mai: Die Genfer Abrüstungskonferenz der Hooligans aus England und den Niederlanden im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ist in eine Sackgasse geraten. Nachdem eine ziemlich schnelle Einigung in der Frage der strategischen Begrenzung von Handgranaten, Tellerminen und Eisenstangen auf hundert Stück pro Fanblock erzielt werden konnte, kommt es zum Eklat, als die Niederländer bei den Beratungen über die Limitierung der „offensiven Verbalinjurien“ verlangen, daß die Briten auf den Ausdruck bloody bastards verzichten. Erst nach halbstündigem Randalieren kehrt langsam wieder Ruhe ein und die Verhandlungen werden um eine Woche vertagt.

München, 10. Mai: Reichskanzler Helmut Kohl bürgert den Leimener Tennisspieler Boris Becker aus Deutschland aus. Grund ist eine Äußerung Beckers nach den ersten gesamtdeutschen Wahlen, bei denen Kohl die absolute Mehrheit erhalten hat: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.“

Während die Boulevardpresse jubelt: „Gott schütze unser deutsches Vaterland vor solch vaterlandslosen Weltranglistenersten“, zeigen sich die ehemaligen Mannschaftskollegen Beckers, der ankündigte, nun gemeinsam mit Mats Wilander im Davis Cup für Monaco spielen zu wollen, erschüttert. Carl-Uwe Steeb: „Monaco wird ein sehr starker Gegner werden.“

Genf, 14. Mai: Überraschend schnell kommt der Durchbruch bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen der Hooligans aus England und den Niederlanden. Nachdem sich die Engländer zuvor bereit erklärt haben, den Gesang God save the Queen in die Liste der „verbotenen Obszönitäten“ aufnehmen zu lassen, stimmen die Niederländer dem Kompromißvorschlag von Hermann Neuberger zu, den Ruf bloody bastards durch die Formulierung fucking assholes zu ersetzen. Zur Entspannung der Atmosphäre haben vor allem die Gutachten mehrerer Sprachwissenschaftler beigetragen, die den Engländern glaubhaft versicherten, daß der Slogan Hup, Holland, Hup nicht wie angenommen bedeute: „Ihr verdammten englischen Dreckschweine“. Am Abend zeigen sich beide Seiten zufrieden und feiern den Vetragsabschluß mit einer zünftigen Keilerei vor 30.000 Zuschauern im Stadion von Servette Genf.

Luxemburg, 29. Juni: Um ganz sicherzugehen, nicht wie im Vorjahr den Start zur Tour de France zu verpassen, findet sich der Spanier Pedro Delgado schon 24 Stunden vor Beginn des Prologs am Startort in Luxemburg ein. Dennoch wird Delgado einen Tag später wegen Nichterscheinens disqualifiziert. Der Start findet im französischen Futuruscope statt.

Futuroscope, 30. Juni: Während inzwischen fast alle Teilnehmer der Tour de France bei Zeitfahren den im Vorjahr vom späteren Sieger Greg LeMond eingeführten Triathlonlenker vewenden, überrascht der Amerikaner die Konkurrenz schon wieder mit einer Neuerung. Statt des üblichen Fahrradsattels benutzt er einen Pferdesattel. „Den habe ich von meinem Urgroßvater geerbt“, grinst der Mann aus Colorado kaugummikauend in die Kameras, „das schont den Arsch und bringt mindestens acht Sekunden.“

Rom, 8. Juli: Zum Endspiel Argentinien-Italien taucht völlig unerwartet der seit drei Monaten spurlos verschwundene Diego Maradona auf. Maradona hat deutliches Übergewicht und kann sich wegen seiner angegriffenen Bandscheiben nur auf Krücken fortbewegen, dennoch setzt ihn Trainer Bilardo umgehend im Mittelfeld ein. Argentinien gewinnt mit 3:2 nach Toren von Maradona (31. Minute per Elfmeter), Burruchaga (46. Minute, nach Steilpaß Maradonas vom Anstoßpunkt) und Maradona (87. Minute). Fernsehbilder beweisen hinterher, daß Maradona das letzte Tor nicht per Kopf, sondern mit einer seiner Krücken erzielt hat. Doch Schiedsricher Vautrot zeigt sich von den Protesten der Italiener unbeeindruckt. „Es steht nirgends geschrieben, daß Tore nicht mit Krücken erzielt werden dürfen.“

Paris, 24. Juli: Ein erstaunliches Resultat ergibt die Untersuchung des Pferdesattels von Greg LeMond im gerichtsmedizinischen Labor des Pariser Pasteur-Instituts. Der kurz vor dem Ziel in Paris gerissene Sattelgurt, der den fatalen Sturz LeMonds auf den Champs-Elysees verursachte, ist nicht, wie vermutet, von seinem Widersacher Laurent Fignon, welcher wenig später verdächtig grinsend den Zielstrich als Sieger überquert hatte, angesägt worden. Wie die Untersuchung zweifelsfrei ergab, war die Beschädigung mehr als hundert Jahre alt. Es wird vermutet, daß sie von einem nicht mehr zur Ausführung gekommenen Attentat auf LeMonds Urgroßvater herrührte.

Seoul, 24. September: Auf den Tag genau zwei Jahre nach seinem später annullierten Olympiasieg gewinnt Ben Johnson den 100-Meter-Lauf bei den 1. Weltspielen der Gedopten, den sogenannten „Anabolympics“. Der kanadische Sprinter ereicht exakt dieselbe Zeit wie zwei Jahre zuvor, seine 9,79 Sekunden bedeuten Anabolethen-Weltrekord.

Las Vegas, 27. September: Schon nach dreißig Sekunden muß der Weltmeisterschaftskampf der Schwergewichtsboxer zwischen Titelverteidiger Mike Tyson und George Foreman wegen einer schweren Verletzung des 40jährigen Herausforderers abgebrochen werden. Nach einer unglücklichen Drehung Tysons trifft Foreman mit einem rechten Haken aus Versehen das Genick seines Kontrahenten, und Ringarzt Gary Walker konstatiert mit bleichem Gesicht einen komplizierten Trümmerbruch: „Solch eine zermanschte Hand habe ich noch nie gesehen. Sie sieht aus, als sei ein wütender Elefant darauf herumgetrampelt. Ich fürchte, er wird nie wieder beten können.“

Seoul, 29. September: Skandal bei den Anabolympics: Die Kontrolle der Urinprobe von Ben Johnson ergibt einen negativen Befund. In einer eilig einberufenen Sitzung beschließt das Internationale Anabolympische Komitee (IAC), dem Dopingsünder den Weltrekord und die Goldmedaille abzuerkennen und ihn für zwei Jahre zu sperren.

Athen, 12. Dezember: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) vergibt in einer Sondersitzung die Olympischen Spiele 2000 nach Berlin. Da Berlin aber über so gut wie keine geeigneten Sportanlagen Hotelkapazitäten und Verkehrsverbindungen verfügt, soll ein Teil der Wettbewerbe ausgelagert werden: das Segeln nach Kiel, die Leichtathletik nach Stuttgart, Tennis nach Hamburg, Schwimmen nach Bonn, Turnen nach München, Rudern nach Duisburg, Reiten nach Stockholm, Boxen nach Moskau, Tischtennis nach Peking, Basketball nach Los Angeles usw. usf. Für Berlin bleiben die prachtvolle Eröffnungsfeier (vor 1.200 geladenen Gästen im Internationalen Congress-Centrum), die stimmungsvolle Schlußfeier (vor 1.000 geladenen Gästen im Palast der Republik), sämtliche Siegerehrungen (im Büro des Regierenden Bürgermeisters im Rathaus Schöneberg), das Bogenschießen (Stadion der Weltjugend) und das Badmintonturnier (Olympiastadion). Sollte es wider Erwarten doch noch gelingen, den seit Jahren gesuchten Standort für eine Sporthalle zu finden, könnten auch Ringen (griechisch -römisch) und die Wettkämpfe der Demonstrationsdisziplin Pfeilwerfen in der Olympiastadt ausgetragen werden. Möglicherweise findet auch der Vorschlag Gehör, daß Fußballturnier als Hallenveranstaltung mit sechs Mannschaften in der Deutschlandhalle auszutragen. Voraussetzung wäre allerdings eine Erweiterung des dortigen Pressezentrums von bisher acht auf mindestens zwölf Quadratmeter.

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