: Parteienstreit um polnische Westgrenze
■ Bundesverfassungsrichter Herzog sieht innenpolitische Motive hinter Streit um Polens Grenze
Bonn (afp) - Die auch zum Jahreswechsel andauernde Diskussion über die polnische Westgrenze ist nach Auffassung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Roman Herzog, ein Streit um des Kaisers Bart, hinter dem eher innenpolitische als völkerrechtliche Motive stecken. Auch eine von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth vorgeschlagene gemeinsame Erklärung beider deutscher Parlamente nach der Volkskammerwahl in der DDR zur Oder-Neiße-Grenze könne den rein juristischen Einwand gegen eine endgültige Anerkennung nicht beseitigen, sagte Herzog im Deutschlandfunk. Frau Süssmuth selbst rief erneut dazu auf, den „irritierenden und verunsichernden Disput“ endlich zu beenden. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sei das Deutsche Reich nach 1945 nicht untergegangen, sagte Herzog. Andererseits habe das Gericht auch nie erklärt, daß sich die Wiedervereinigung unbedingt auf das deutsche Reich in den Grenzen von 1937 erstrecken müsse. Trotzdem bestehe es fort und könne erst durch einen Friedensvertrag beendet werden.
Die Bundestagspräsidentin betonte in ihrer Neujahrsansprache, in einem Europa offener Grenzen sei kein Raum mehr für „überholtes nationalstaatliches Denken“. In der Bundestagsentschließung vom 8.November sei zur polnischen Westgrenze gesagt worden, „was zu sagen ist“. „Das in den Verträgen Vereinbarte gilt und muß verläßlich gelten. Die Polen müssen wissen, daß sie sich auf uns verlassen können und in sicheren Grenzen leben.“ Frau Süssmuth hatte sich am Freitag für eine „klare gemeinsame Willenserklärung beider deutscher Staaten über die Anerkennung der bestehenden polnischen Westgrenze“ ausgesprochen. Kohl hatte dies anschließend als augenblicklich „nicht akzeptabel“ bezeichnet und im übrigen auf den Warschauer Vertrag verwiesen, in dem die Bundesrepublik auf Gebietsansprüche gegenüber Polen verzichtet hat.
Grünen-Sprecher Lippelt führte die nach seinen Worten „starrsinnige“ Weigerung des Bundeskanzlers, ein „notwendiges und klärendes Wort“ zur polnischen Westgrenze zu sagen, darauf zurück, daß die Ostpolitik der Bundesregierung offenbar in den Händen der Vertriebenen liege. Kohl schweige „um rechter Wählergruppen willen und erpreßt von den Czajas und Koschyks in seiner eigenen Partei“.
Gegen einen deutschen Sonderweg, der Ängste bei den europäischen Nachbarn schürte und eine ungeheure Destabilisierung nach sich zöge, wandten sich auch der Vorsitzende der SED-PDS, Gregor Gysi, und DDR-Außenminister Oskar Fischer. Gysi sprach sich in der Parteizeitung 'Neues Deutschland‘ für eine „umfassende Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik aus, lehnte aber eine „Vereinnahmung“ und jeden „deutsch-nationalistischen Taumel“ entschieden ab. „Wir müssen lernen, europäischer zu werden“, sagte er. Nach Fischers Worten geht die DDR davon aus, daß die Beziehungen zur Bundesrepublik als neue Partnerschaft für Europa zu gestalten sind.
Für die DDR versicherten der Staatsratsvorsitzende Manfred Gerlach, Ministerpräsident Hans Modrow und Volkskammerpräsident Günther Maleuda, man werde der besonderen Verantwortung „für Frieden und Sicherheit, für Abrüstung und Entspannung“ stets nachkommen, die die DDR gemeinsam mit der Bundesrepublik trage.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen