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HARUN FAROCKI

 ■  Stellen und Themen

Der Film hatte vorausgeschickt, daß ein Triebtäter in der Vorstadt unterwegs war, nun zeigte er ein Boudoir zu ebener Erde, in dem eine junge Frau vor dem Schlafengehen Toilette machte. Selbstgefällig sah sie in den Spiegel und summte dabei, mit beiläufiger Kopfbewegung versuchte sie, den ausgebürsteten Haarstrang auf den Rücken zu schütteln, und als er an der Schulter hängenblieb, half sie mit der Hand nach, worauf ein Filmzuschauer rief: Danke, es geht schon. Er rief das, weil das Haar auf den Rücken mußte, um Bocherei, Bries, Gedütt, Gibber, Lollo, Palobrek oder Pietz der Frau zu entblößen. Er rief, weil wir Nacktheit sehen und der Film Nacktheit zeigen wollte, die aber mit einer Spielhandlung aus Boudoir, Triebtätern und der Warnung vor Triebtätern verkleidete. Sein Zwischenruf kam zu einem Zeitpunkt, als Sex und Film nicht mehr zusammenhielten, Winter 1963 in einer Nachtvorstellung. Ein paar Jahre später wurde das Publikum in Sex-Publikum und Film-Publikum geteilt, der Sex kam in die Sex-Kinos und hatte nichts mehr mit Film zu tun. Diese Entmischung ist auch dem Nichtsexfilm schlecht bekommen, und der Zwischenrufer hat sie mit seinen vier Worten befördern wollen - man muß ihm zugute halten, daß er die Frau auf der Leinwand ansprach, als der Film kaputtging, und daß nicht er den Film zerstörte.

Mit der Abspaltung des Sex verging auch die Sündhaftigkeit der Nacht aus dem Wort Nachtvorstellung. Seit man vormittags Sexfilme sehen kann, kann man nachts Wäsche waschen gehen, heute bekennt die nächtliche Öffnung von Waschsalons, Eßlokalen und Kinos, wie viele Bürger nicht mehr am Morgen früh rausmüssen.

An einem Nachmittag während des Vietnamkrieges - ich hatte mich aus einer Antivietnamkriegsveranstaltung geschlichen wie aus der Schule - sagte in einem Rennfahrerfilm ein Japaner, um zu bekräftigen, daß er heute der größte Freund der Amerikaner sei, er habe im Weltkrieg zwölf US-Flugzeuge abgeschossen. Da klatschte ich Beifall, und zu meiner Verblüffung fiel der halbe Saal ein. Ich überlegte noch, ob das Berliner Publikum die Bombardierung Hanois mit der von Berlin in Zusammenhang brachte und wie, als das Pausenlicht anging und offenbarte, daß der Saal zur Hälfte mit solchen besetzt war, die aus der gleichen Veranstaltung geschlichen waren wie ich.

Da war es mir mißlungen, dem Film etwas hinzuzufügen (die Erkenntnis: wenn es dunkel ist, trauen sich die Berliner, gegen US-Bomber die Hände zu rühren), ich hatte nur etwas angesprochen, was die Mehrheit im Saal auch ohne den Film vermeinte.

Seit 20 Jahren werde ich für diesen Mißgriff bestraft. Seit 20 Jahren muß ich unter Leuten im Kino sein, die angesichts von Truffauts Wildem Kind bekunden, daß sie dagegen sind, daß man Kinder zum Lernen zwingt. Die bei Ford bekunden, daß die Indianer die Schlacht nicht verlieren sollen, bei Hitchcocks Topas bekunden, daß sie nicht wollen, daß der CIA dem KGB überlegen ist. In Tanners Messidor bringen zwei Frauen einen Vergewaltiger um, da klatscht das ganze Kino Beifall, als werde da ein Lehrfilm zur Selbstverteidigung gezeigt, etwas später lassen sich die beiden Frauen von zwei Motorradfahrern in die Scheune abschleppen, und da brummt das ganze Kino vor Enttäuschung. Diese Zuschauer wollen für die Indianer oder die Frauen sein. Dabei lachen sie über jede fremde Kultur, die eine Revivalmode nicht gerade vergegenwärtigt hat, kürzlich über das Bild der Ritterlichkeit in Melvilles Zweitem Atem.

Sie greifen sich aus den Filmen die Politik heraus, auf die sie gerade scharf sind. Die Politik wird zu einer Spezialität wie der Sex. Es werden Frauenfilme, Schwulenfilme, Minderheitenfilme gezeigt. Früher gab es Stellen, heute gibt es Themen.

Der Filmemacher Harun Farocki produziert seit den 60er Jahren. Er ist bekannt durch seine Essayfilme „Etwas wird sichtbar“, „Wie man sieht“, „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“. Er arbeitete aber auch für „Sandmännchen“ und die „Sesamstraße“.

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