: Shiwkows Erbschaft
Proteste gegen die Liberalisierung in Bulgarien ■ K O M M E N T A R
Mit ihrer Liberalisierung der Nationalitätenpolitik hat die bulgarische KP der liberalen Opposition einigen Wind aus den Segeln genommen. Die Rücknahme der Gesetzgebung, nach der alle Moslems genuin bulgarische Namen zu übernehmen hatten, gehörte zu jenen öffentlichen Forderungen, von denen man ahnte, daß sie möglicherweise nicht populär sein würden. Was die „durchschnittlichen“ Bulgaren so denken, war jedoch unbekannt.
Daß es jetzt zu den nationalistischen Manifestationen kommen konnte, ist ein posthumer Erfolg Todor Shiwkows. Er hatte durch eine Vielzahl machiavellistischer Methoden den ethnischen Konflikt bewußt geschürt. Zu den Legenden, die er in die Welt gesetzt hatte und die auch heute noch geglaubt werden, gehörten sowohl die These einer überwältigenden türkischen Geburtenrate als auch die Beschwörung einer Zerstückelung des kleinen Bulgarien. Die Begründung schließlich, die Türken in Bulgarien seien ethnisch Bulgaren, die einst durch die Osmanen zwangsassimiliert wurden und nun zur ihrer eigentlichen Nation zurückkehren, war eindeutig rassistisch. Die Opposition gegen diese Politik von seiten der Moslems blieb gewalttätig und hilflos. Sie waren überwiegend Bauern und Arbeiter. Die dünne Schicht der türkischen Intellektuellen wurde vertrieben, die türkische Minderheit damit politisch enthauptet. So waren es prominente bulgarische Intellektuelle und Künstler, die vor allem seit dem Frühjahr 1989 ihre Stimme auch für die unterdrückten Minoritäten erhoben. Ihre Prominenz bot einen gewissen Schutz vor der staatlichen Repression. Sie verwiesen auf genuin bulgarische Traditionen. Die Begründer des bulgarischen Nationalismus, die den Befreiungskampf gegen die osmanische Herrschaft forderten, hatten immer auch an einen Staat gedacht, in dem Bulgaren, Türken und Juden gleichberechtigt Bürger sein würden. Schließlich hatte Bulgarien seine Juden vor dem Zugriff der Deutschen weitgehend geschützt. Tatsächlich lebten die verschiedenen Nationen, anders als in Mitteleuropa üblich, friedlich, wenn auch etwas gleichgültig nebeneinander her. Erst Shiwkow öffnete die nationalistische Büchse der Pandora. Die kommenden Wochen erst werden zeigen, ob das liberale Erbe Bulgariens sich durchzusetzen vermag oder ob Shiwkows Nationalismus das Land immer noch verunstaltet.
Erhard Stölting
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