Ein SED-Chef vor der Wahl

■ Ansichten und Meinungen von Roland Wötzel / Ein taz-Gespräch mit dem SED-Chef von Leipzig / Nötig wäre in der DDR „so etwas wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945“ / „Wenn das Land rechts wird, würde ich es verlassen“ / Die schwierigste Frage vor der Wahl für die SED werde sein, ein Profil zu bekommen

taz: Herr Wötzel, Sie sind seit Herbst Vorsitzender der Bezirksleitung der SED in Leipzig, das heißt, den alten Machtkategorien zufolge der Chef dieses Bezirkes.

Roland Wötzel: Ich betrachte mich als Übergangslösung. Tatsächlich wollte ich schon im Frühjahr aufhören, aus den Parteiämtern ausscheiden, auch aufgrund einer Verstimmung, die immer mal vorkommt. Ich bin kein Volkstribun. Ich neige mehr zum Nachdenken...

Sie sind erster Sekretär der Parteileitung, und ihr Bezirksratsvorsitzender, der Regierungs- bzw. Verwaltungschef, ist vor kurzem verhaftet worden. Was macht man als Parteichef in einer solchen Situation?

Die Verhaftung erfolgte wegen Amtsmißbrauchs. Anschuldigungen gab es schon vorher. Da wir praktisch die Regierung stellen, habe ich mich eingeschaltet; ich hatte zwei Gespräche mit ihm. Er hat mir immer beteuert, daß die Vorwürfe nicht stimmen. Die Angelegenheit ist auch etwas undurchsichtig. Die Gemeinde hatte ein Haus gekauft, und er ist da eingezogen und bezahlt Miete. Ich selbst kenne die rechtserheblichen Tatsachen nicht, um da ein Urteil zu fällen.

Und was geschieht nun?

Ich bin sehr für Ordnung. Wir haben ja auch eine eigene Untersuchungskommission eingesetzt, hier im Haus (Bezirksleitung), auch mit Vertretern des Neuen Forums. Ich habe zum Beispiel gleich angeboten, meinen Hauskauf zu überprüfen. Ich habe mir vor zwei Jahren ein Haus gekauft.

Höre ich da die Angst vor dem Wahlkampf heraus?

Wir versuchen, mit sauberen Händen in die Wahl zu gehen. Der Schlagabtausch über die Skandale von Machtmißbrauch und Bereicherung muß überwunden werden, sonst gerät das Land in die Unregierbarkeit.

Sie wollen die Partei reinigen. Dazu brauchen Sie Zeit. Aber genau diese Zeit haben Sie nicht, Sie befinden sich ja schon im Wahlkampf.

Wenn wir realistisch sind, müssen wir davon ausgehen, daß wir in den nächsten fünf bis sechs Wochen vollauf beschäftigt sein werden, überhaupt glaubhaft zu machen, daß wir uns erneuern wollen. Wir werden damit beschäftigt sein, mit Korruption und Amtsmißbrauch aufzuräumen. Wir müssen mit immer neuen Fällen rechnen. Wir müssen auch Mitgliederschwund in Kauf nehmen, weil wir sonst nicht sauber werden. Wir werden gegen einige führende Genossen Parteiverfahren einleiten, wo auch nur Verdachtsmomente bestehen.

Wächst der Druck der Parteibasis?

Ja. Wir kriegen massenhaft Briefe, Informationen, auch aus dem Apparat. Heute bekam ich einen Brief, der auf Kuren ohne ärztliches Gutachten hinwies.

Es gibt ja in der DDR nicht nur einzelne Privilegien, sondern eine regelrechte Privilegienwirtschaft. Sie können ja nicht die halbe Partei entlassen. Wo ist die Privilegienfrage besonders brisant?

Die Grenze liegt für mich dort, wo der Betreffende es haargenau wußte, daß er sich Privilegien verschafft hat. Er weiß es und leugnet trotz allem.

Sind Sie selbst ohne Tadel?

Wahrscheinlich habe ich mich auch unbewußt der Privilegien bedient. Ich habe der Untersuchungskommission alles in meinem Haus gezeigt. Als ich einzog, habe ich das Bad kacheln lassen. Nun sind bei uns Fliesen knapp, und der junge Mann vom Neuen Forum hat gesagt, ich hätte sicher ohne Mühe Fliesen bekommen. Ich habe es nachgeprüft. Er hatte recht. Aber ich kann Ihnen nicht einmal sagen, ob da der Name Wötzel automatisch gewirkt hat.

Sind das nicht allzu hehre Maßstäbe an Sauberkeit?

Nun, bei Ihnen trinkt man Wein und predigt auch Wein; aber bei uns wurde eben zuviel Wasser gepredigt und Wein gesoffen.

War für Sie der Parteitag der SED im Dezember nun schon ein Neuanfang oder eher erst die Erfahrung des ganzen Desasters?

Die zwei Teile des Parteitages zeigten zwei Inhalte. Es ging einmal darum, über den ganzen Mist, system- oder subjektiv bedingt, den Frust zu äußern. Deswegen war auch die Nachtsitzung nicht erhebend. Auf der anderen Seite: Modrow braucht natürlich wieder eine handlungsfähige Partei. Deswegen mußte ein Vorstand her. Ich bin nicht der Meinung, daß sich dort die Partei erneuert hat, sondern daß sie erst begonnen hat, sich zu erneuern.

Ein ungelöstes Problem ist ja auch die Trennung von Staat und Partei, die Frage der Parteifinanzen.

Nun, die Partei konnte sich ja bisher finanzieren. 46 Prozent aus den Mitgliedsbeiträgen, 45 Prozent aus den parteieigenen Betrieben...

Das ist natürlich der offizielle Haushalt!

Der offizielle Haushalt. Wir setzen natürlich auch eine Tiefenprüfung. Wir haben zum Beispiel das Haus der Stadtleitung, das unser Eigentum ist, den oppositionellen Gruppen zur Verfügung gestellt. Ich bin auch der Meinung, daß alles das, was früher uns überschrieben wurde, sofort zurückgegeben werden sollte.

Es gibt ja auch das Problem, daß Parteiarbeiter als staatliche Angestellte bezahlt werden...

Die schwarzen Husaren! Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Muß nicht der Apparat abgebaut werden?

Da habe ich große Sorgen. Alle Leitungen sind ja auf Druck der Basis geplatzt, neu gewählt worden. Die Entlassungen gehen bis zu 30 Prozent. Die Leute unterzubringen, ist enorm schwierig. Auf den Demonstrationen ist gerufen worden: „Stasi in die Volkswirtschaft“. Dann wollen viele in die Volkswirtschaft, und sie werden nicht genommen. Auch ich muß sagen, wenn ich hier aufhören will - was ja meine Absicht ist -, ich habe ganz schlechte Chancen im normalen Berufsleben. Die Überbrückungsmöglichkeiten der Partei sind begrenzt.

Wie sieht es denn jetzt mit den Parteiaustritten aus?

Wir haben ein ganz rapides Absinken der Rückgabe der Mitgliedsbücher. Wir hatten große Befürchtungen vor dem Parteitag, vor allem wegen der Umbenennung der SED. Denn die Masse der Mitglieder ist konservativ, wollte den Namen SED behalten. In Leipzig sind bei der Delegiertenwahl fast alle, die für einen neuen Namen waren, durchgefallen.

Was will denn die Mehrheit der Mitglieder in Leipzig, außer den bisherigen Namen behalten?

Sie wollen Aktionen jetzt. Es wäre sicher gut, da einmal unter dem Gesichtspunkt von Mitscherlichs „Trauerarbeit“ nachzudenken. Die meisten Mitglieder wollen nicht so recht traurig sein, sondern sich eher in die Offensive flüchten.

Was heißt „Aktionen“?

Unsere Parteibasis hat nach wie vor nicht das Gefühl, daß wir energische Schritte machen. Keiner kann allerdings sagen, worin die bestehen müßten. Es reicht auch nicht, zu sagen, wir haben mit dem Parteitag nun eine Plattform. Die Kreissekretäre fragen trotzdem: Was soll man denn nur machen, damit die Mitglieder merken, wir sind da. Am liebsten hätten es die Mitglieder, wenn wir zum Dimitroff -Platz in Leipzig ziehen und eben Aktionen verkünden würden. Aber das geht schon deswegen nicht, weil das politische Spektrum innerhalb der Partei inzwischen sehr breit ist, von ganz links bis ganz rechts, von harten Stalinisten bis hin zu Sozialdemokraten.

Das heißt, die Leipziger Parteiorganisation hat eine harte stalinistische Vergangenheit?

Vielleicht war sie gar nicht soviel härter als in anderen Bezirken. Aber eins war schlimm: In Leipzig hat die Volksbewegung angefangen, hat sich diese Volksrevolution am deutlichsten artikuliert. Und die Parteiführung hier hat das überhaupt nicht wahrgenommen. Beispielsweise bei dem „Pleiße -Marsch“ im Mai '89 hat sie nur mit Unterdrückung reagiert. Dabei war es doch das Normalste überhaupt, wir hätten damals mitgehen müssen und auch für eine saubere Pleiße demonstrieren. Wir hätten eine Gulaschkanone aufstellen, Essen ausgeben und dann mit den Leuten darüber reden sollen, wie man beispielsweise die Märzenbecher-Pflanzen retten könnte.

Haben Sie das denn damals laut gefordert?

Das habe ich damals aufgeschrieben, auf fünf Seiten. Aber ich wurde ja dann von allen großen Komplexberatungen ausgeschaltet...

Komplexberatungen?

Die jährlichen Beratungen der Regierung mit den Bezirken, über Standortverteilung der Produktivkräfte zum Beispiel. Und dort habe ich immer betont: So geht es nicht weiter. Wir fahren uns in eine ökologische Krise. Es gab ja Pläne. 1970 hatten wir schon einen Ökologieplan, einen Plan für vorbildliche Begrünung. Das ist alles weggefallen. Es gab die Idee eines Schutzwaldstreifens rund um Leipzig, aber der Tagebau war wichtiger. Als ich dann daran dachte, auf eine weitere Parteiarbeit zu verzichten, hab ich mir oft gesagt, ob das nicht aus persönlichem Frust resultiere, weil ich nicht gelandet bin.

Warum Selbstvorwürfe, da Sie doch kaltgestellt wurden?

Vielleicht müßten wir so etwas machen wie die Evangelische Kirche nach 1945, so etwas wie ein Stuttgarter Schuldbekenntnis; vielleicht müßten wir sagen, wir haben nicht genug gerufen, nicht laut genug gesagt, daß Schluß sein muß. Was Karl-Heinz Klein aus Leuna auf dem Parteitag gesagt hat, stimmt wahrscheinlich: In allen von uns saß ein kleiner Josef Wissarionowitsch (Stalin). Wir haben Disziplin gehalten.

Wollen Sie mit dem Hinweis auf das Stuttgarter Schuldbekenntnis sagen, daß in der DDR jetzt eine ähnlich tiefgreifende Vergangenheitsbewältigung nötig ist wie nach 1945?

Zunächst - um einen völlig unparteimäßigen Begriff zu zitieren: Es fehlt in der Partei die Fähigkeit zur Buße. Selbstkritik, ja, das wurde gepredigt. Dann: Man sollte den Wahlkampf mit Bescheidenheit führen. Ich habe immer etwas dagegen, wenn jemand sagt: „Jetzt müssen wir in die Offensive kommen.“

Sind Sie Spitzenkandidat bei den kommenden Wahlen?

Das wird wohl so sein, aber ich möchte eigentlich der Partei in einer anderen Funktion dienen. Ich liebe Parlamentsdebatten. Und ich möchte im Grunde von dieser Art von Schreibtisch weg.

Wie wollen Sie eigentlich den Wahlkampf führen? Gysi hat in seiner Programmrede auf dem Parteitag alle besseren Traditionen der Menschheit auf die Fahne der SED geschrieben, aber das ist ja kein Programm...

Es kommt darauf an, daß wir möglichst schnell den Wahlparteitag machen. Ob das geht, mit den ganzen Delegiertenwahlen, ist die Frage. Ich habe das kürzlich mit dem ZK...ich meine, mit dem Vorstand besprochen. Wir müssen jedenfalls dann das Programm und die Wahlplattform beschließen. Gegenwärtig verhalten wir uns ja so wie jede andere Partei. Die CDU unterscheidet sich ja nur noch dadurch von uns, daß sie noch den lieben Gott aufgenommen hat. Ein Profil zu bekommen, das wird die schwierigste Frage sein. Das wird noch einmal einen großen Trennungsprozeß bedeuten. Dann werden sich rechts und links noch einmal Mitglieder abspalten.

Wissen Sie denn, was demokratischer Sozialismus ist?

Wenn ich das jetzt definieren würde, wär's genauso schwammig wie alles andere. Was ich mir allerdings vorstellen könnte, wäre ein Begreifen und eine praktische Aneignung des Volkseigentums. Sei es durch Volksaktien oder Genossenschaften. Und dann die Entwicklung einer ausgeprägten Demokratie. Der Sozialismus braucht das breite Mitmachen, den Streit aller Kräfte. Solange wir in diesem Land eine Mehrheit für Sozialismus haben oder eine Mehrheit dafür, daß es nicht ausverkauft wird, ist gar nicht wichtig, ob wir in der Opposition sind oder nicht.

Erwarten Sie einen Wiedervereinigungswahlkampf?

Es kann natürlich eine Polarisierung geben. Es ist jedenfalls wichtig, deutlich zu machen, daß da die Position der SED differenziert ist. Wir wollen ja die Vertragsgemeinschaft bis hin zur Konföderation. Viele glauben schon, das sei die Einheit. Konföderation heißt grundsätzliche Übereinstimmung in Fragen der Sicherheits und Außenpolitik bei selbständiger Innenpolitik. Die Geschichte ist nach vorn offen.

Was sagen Sie dann zu der Zunahme der Wiedervereinigungsparolen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen?

Man muß sich davor hüten, jeden, der „Deutschland einig Vaterland“ ruft, in die rechte Ecke zu schieben. Viele sagen sich - wie es ein Leipziger Handwerker auf einer Montagsdemonstration sagte: „Ich bin 45 Jahre alt und will keine Experimente mehr. Da drüben habe ich ja eine bessere Gesellschaft vor der Haustür.“

Ich habe den Eindruck, daß es bei den Leipziger Demonstrationen immer aggressiver zugeht.

Die Lage ist schon emotionalisiert. Ich habe Angst, daß das eskalieren kann. Es geht mir nicht um die, die rufen: „Deutschland einig Vaterland“, sondern um die Abnahme der Toleranz unter den Demonstranten. Es geht um die, die brüllen: „Rote aus der Demo raus“, „Wandlitzkinder“ etc. Ich habe natürlich auch Angst, daß dieses Land rechts wird. Ich würde es dann verlassen. Man müßte eigentlich aufrufen: Leipziger, nehmt alle an der Demo teil. Die Leipziger in der Masse, das ist ein friedliches Völkchen. Die wissen, daß sie etwas wert sind. Es ist eine fleißige, eine kunstbesessene Truppe. Die hängen an ihren Symbolen, an ihrem Gewandthaus, an ihrem Masur.

Für den Wahlkampf brauchen Sie mehr als Verständnis. Sie brauchen vor allem in der prekären Leipziger Situation Sofortprogramme.

Wir haben schon im November den Vorrang der Ökologie vor Ökonomie beschlossen, für den Leipziger Raum jedenfalls. Das heißt Nationaleinkommens-Umverteilung, ökologische Investitionen. Wir brauchen sofort Filteranlagen, Entstaubungsanlagen, Direktentschwefelung in Espenhain...

Beim Kraftwerk Espenhain sagen aber die Fachleute, daß wirksame Filter dort so teuer wären wie ein neues Werk.

Ja, das ist das Problem. Man muß heute damit rechnen, daß man bei einer größeren neuen Anlage 50 Prozent für Umweltschutz ausgeben muß. Wir müssen auch den Braunkohletagebau aufhalten. Wir brauchen auch Sofortprogramme für das Bauwesen. Der Zustand der Häuser ist so erschreckend, daß sofort etwas geschehen muß...

Das heißt: winterfest machen...

Wir müssen über den Winter kommen. Wir dürfen nicht zulassen, daß etwas passiert, wodurch es auf der Straße zu Auseinandersetzungen kommt. Der Winter war ja gottseidank bislang mild.

Woher wollen Sie für entsprechende Maßnahmen denn die Leute nehmen?

Wir haben ja Tausende Soldaten eingesetzt, die die Infrastruktur stabilisieren. Analog bedarf es Sofortmaßnahmen im Gesundheitswesen.

Rechnen Sie nach der Wahl mit einer Oppositionsrolle?

Kann sein, daß wir in der Opposition sind oder vielleicht eine schwache Position in einer Koalitionsregierung haben werden.

Wäre es nicht sinnvoll für die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, wenn die SED in die Opposition ginge?

Ja. Allerdings sollte man sich im Wahlkampf nicht gerade dafür einsetzen. Die Losung müßte schon sein: Man soll nicht ohne uns regieren können.

Das Gespräch führte Klaus Hartung