: Scheideweg
Zur Grenzöffnung zwischen Rumänien und der Sowjetunion ■ K O M M E N T A R E
Grenzöffnungen machen den freien Verkehr von Menschen und Ideen möglich. Verschwunden geglaubte historische Regionen können wieder auftauchen. Das wird in Osteuropa besonders deutlich erkennbar. Nicht nur die Sowjetunion als Ganze, jede einzelne Sowjetrepublik ist ein Vielvölkerstaat. Und in keinem einzigen osteuropäischen Land fehlen nationale Minoritäten - schließlich sind alle Reststücke großer Imperien. Diese Imperien aber waren nicht nur „Völkergefängnisse“, sie schufen auch kulturelle Zusammenhänge, die nach ihrem Untergang fehlen. Die nationalstaatliche Idee hatte demgegenüber immer ein Janusgesicht. Der Widerstand gegen die Unterdrückung erzog auch zur Intoleranz. Er verhieß der Majorität nationale Freiheit, für die Minoritäten bedeutete er Assimilationsdruck, Entrechtung oder Vertreibung.
Die kommunistischen Regime setzten die Homogenisierungspolitiken fort. Der nationalistische Appell wurde um so schriller, je mehr die sozialistische Idee angesichts der politischen Realität an legitimierender Anziehungskraft einbüßte. Aber Demokratisierung für sich löst das Problem des Nationalismus noch nicht. Die ehemaligen Oppositionen können auch von Massenstimmungen weggefegt werden, wenn sie in nationalen Dingen liberal werden.
Das kann angesichts der Grenzöffnung zwischen der Sowjetunion und Rumänien noch brisant werden. Eben erst war es der Bevölkerungsmehrheit in der Sowjetrepublik Moldawien gelungen, gegen den Russifizierungsdruck die Anerkennung ihrer Sprache als Rumänisch und die lateinische Schrift anstelle der kyrillischen durchzusetzen. Die jetzige Grenzöffnung könnte nun das Zusammenwachsen der rumänischen Kultur diesseits und jenseits der Grenze ermöglichen, ohne daß dem Götzen Nationalstaat neue Menschenopfer gebracht werden müssen. Das ist offenbar die Hoffnung der sowjetischen Regierung. Aber der Sturz Ceausescus hat auch Anschlußforderungen an Rumänien laut werden lassen. Sie können nun grenzüberschreitend auftreten.
Die Alternative ist ein polizentrisches Europa, in dem Grenzen Verwaltungsgebiete markieren, oder ein Europa, in dem das nationalistische Elend weitergeht. Rumänien könnte zum Testfall werden. Die antitürkischen Demonstrationen in Bulgarien sind da allerdings ein schlechtes Omen.
Erhard Stölting
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