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Die Verzweiflung auf der Straße und die Opposition im Saal

Zum Streit um die Wahlkampfchancen in der DDR  ■ K O M M E N T A R E

Gleiche Chancen für die Opposition!“ - eine schöne und plausible Forderung. Aber ist es ein richtiges oder gar absolut richtiges politisches Ziel? Natürlich ist es selbstverständlich, daß die DDR-Opposition um ihren Anteil der Medien kämpft. Aber der Ton, in dem sie das macht, alarmiert. Die Opposition stellt sich jetzt schon vorab als Opfer einer SED dar, die um den Machterhalt kämpft. Aber, daß die SED um die Macht kämpfen wird, daß sie ihre Zeitungen, ihren Einfluß übers Fernsehen zäh verteidigen wird, war doch zu erwarten. Das ist kein bösartiges Manöver der SED im Wahlkampf, das ist Ausgangspunkt und Inhalt des Wahlkampfes. Eine SED, die für eine demokratische Wahl den eigenen Apparat opfert, statt sie mit dem Apparat gewinnen zu wollen, müßte man ja geradezu wählen. Aber so, wie die SED sich in einen inszenierten Abwehrkampf gegen den Neonazismus flüchtet und Antifaschismus als Kitt für die eigene Partei benutzt, so flüchtet sich die Opposition in die alte und bekannte Opferrolle. Kein Wunder, daß die Massen auf den Straßen die Opposition für zu schwach halten.

Neben der Selbstgerechtigkeit des Jammerns über Machtwillen und Übermacht der SED verfallen die Oppositionsparteien immer mehr in den Stil der Bundestagsparteien: Sie kämpfen in derselben öden Manier um Fernsehzeiten und Zeitungsplatz. Dabei ist die DDR-Wahl mit keiner Wahl in der Bundesrepublik zu vergleichen. Es gibt keine gleichen Startbedingungen, denn am 6. Mai fällt das Volk sein Urteil über 40 Jahre DDR und über die Zukunft der DDR. Noch vor Wochen hatte ein Satz der Opposition mehr Bedeutung als die Millionenauflage aller SED-Zeitungen, weil es immer ein Satz über die Zukunft des Landes war; weil die historische Entscheidungssituation allen bewußt war; weil die Opposition die geschichtliche Tendenz und die Hoffnung auf Demokratie für alle zur Sprache brachte, war sie der Medienübermacht der SED unendlich überlegen. Daß das nicht mehr so ist, kann wahrlich nicht der SED angelastet werden. Vielmehr hat die Opposition die Sehne ihrer Macht verloren: der organisierte Wille des Volkes zu sein.

Geradezu symbolisch war das Wochenende von Leipzig. Das Neue Forum tagte in Leipzig, war aber nicht präsent. Der Gedanke, die Leute zusammenzurufen, öffentlich aufzutreten, für die eigene Politik zu werben, kam gar nicht. Die Montagsdemonstration war, mit erneuter Wut, eine Wiedervereinigungsdemonstration. Die Massen glauben nicht mehr an eine DDR-Zukunft, wollen das schnelle Ende. Das Bewußtsein der Misere, des schlechten Lebens, des Zusammenbruchs, verschärft sich. Das Neue Forum tagt über den Problemen der Basisdemokratie, während die Basis sich radikalisiert. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Massen, der Streit mit dem Volkswillen, die politische Führung findet nicht statt, während die existentielle Verzweiflung der Leute zunimmt. Die Politik der Demokratisierung ist unklarer denn je. In der Tat, wie ist eine Demokratisierung denkbar, wenn die Massen auf den Straßen den Konkurs der DDR beschleunigen wollen? Wie soll eine Gesellschaft sich reformieren, die sich auflösen will? Es ist keine Beruhigung, daß die Wiedervereinigung aus wirtschaftlichen, institutionellen und vor allem außenpolitischen Gründen erst einmal keine Aktualität hat. Was wird aus diesem Land, wenn die Massen begreifen, daß der Traum von einem befriedigenden und achtenswerten Leben so wie sie ihn träumen - eine Schimäre ist? Wohin werden sie sich dann wenden? Werden nicht erneut Massen das Land verlassen?

Der „runde Tisch“ ist zwar das einzige demokratische Kontrollorgan, aber er leistet gerade das nicht, was er versprach: eine Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes. Wo findet sie eigentlich statt? Wer erzwingt sie? Wo ist die treibende Kraft, die den Massen klarmacht, daß sie um Jahre der mühseligen Reformarbeit, um Verlust von Wohlstand, um soziale Konflikte nicht herumkommen? Wer macht den Arbeitern klar, daß sie nicht im Sozialismus arbeiten und im Kapitalismus leben können? Sich als Bruder- oder Schwesterpartei an eine Bundespartei anzubiedern wie die SDP ist sicherlich der schlechteste Weg. Aber sich aus der halb illegalen Nischenkultur, aus der Politik im Freundeskreis, in die Basisdemokratie zu fliehen, wie das Neue Forum, ist gewiß nicht erfolgreicher.

Es gibt kein Patentrezept, schon gar nicht aus dem Westen. Aber eins ist gewiß: die Massen zur Demonstration gegen die SED aufzurufen, reicht nicht mehr aus. Sie müssen jetzt allmählich für etwas demonstrieren, das mehr ist als Wiedervereinigung und die Beschwörung des Heils, das da Joint-venture heißt. Dieses „Für“ muß erstritten werden, vor und mit den Massen selbst. Ohne diese harte Auseinandersetzung, in die sich die besten Kräfte einmischen müssen, wird die Mischung von Wut und Resignation nur noch zunehmen. Dann wird vielleicht die SED die Wahlen verloren haben, aber die Opposition wird nichts gewonnen haben außer einem Haufen von Ressorts zur Konkursverwaltung.

Klaus Hartung

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