: Die Zukunft zeigt sich nur langsam
Eine neue Normalität kehrt in Bukarest ein / Intellektuelle Wendehälse werden sichtbar / Studenten werden aufmüpfig gegen Führung / Neue Gewerkschaften werden gegründet / Alte Parteien tauchen wieder auf / Programme sind noch vage ■ Aus Bukarest Erich Rathfelder
Noch immer sind die Spuren der Kämpfe in der Stadt zu sehen. Und weiterhin ziehen Zehntausende an den zerstörten Gebäuden vorbei, an der ausgebrannten Universitätsbibliothek, den zerschossenen Mauern des Rundfunk- und Fernsehgebäudes, an den Stellen, wo Menschen von den Truppen der Securitate den Terroristen, wie es jetzt heißt - bringen Blumen mit, andere stecken Kerzen an, aus Trauer um die Toten. In den Wohnblocks, wo die verhaßten Sicherheitsbeamten wohnten, erinnern Aufschriften wie „jos comunisti“, „Nieder mit dem Kommunismus“ und „Hängt die Mörder“ an die heißen Tage der Revolution.
Normalisierung
hat eingesetzt
Heute scheinen diese emotionalen Ausbrüche fast schon Vergangenheit. Die Menschen in Bukarest finden sich ein in ihre neue Normalität. In der eisigen Kälte des rumänischen Winters bilden sich um sechs Uhr Schlangen, um eine der kostbaren Ausgaben der Zeitung 'Libertate‘ zu ergattern, die seit ein paar Tagen den Roman von George Orwell, „1984“, als Fortsetzung bringt. Obwohl jeder Rumäne den Inhalt der Fiktion Orwells kennt, die Wirklichkeit übertrifft ja die Fiktion, wird trotz der Minusgrade mit südländischem Temperament über die Zeitungen, die Artikel und natürlich Orwell diskutiert. Auch in den Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften, in denen die Rumänen früher stundenlang standen, sind die Leute entspannt. Witze machen die Runde. Anders als in der Provinz sind die Bukarest die Läden nämlich voll. Nicht selten kaufen die Menschen zehn Kilo Fleisch auf einmal. Butter, Kakao, Kaffee, Zucker, ja sogar Südfrüchte sollen gesichtet worden sein.
Vergangenheit
wird nicht bewältigt
Vielleicht begreifen viele erst jetzt, was eigentlich geschehen ist. JedeR hat die Revolution erlebt, viele hatten Angst, über die zu reden übrigens bei den meisten keine Schande ist. Doch vor allem bei den Intellektuellen wollen nun alle ihr Parteibuch schon vorher zurückgegeben haben. Wie von Zauberhand tauchen Scheine auf, die beweisen sollen, daß die entsprechenden Anträge gestellt waren. Wenn sich nun jedeR zu den Widerständlern zählen will, ist es kaum noch erklärlich, wo die vier Millionen Parteimitglieder herkamen, die fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ausmachen. Alle wissen zwar, welche Kompromisse nötig waren. Doch über dieses Thema wird nicht gern gesprochen. Die Vergangenheitsbewältigung bleibt auf der Strecke. Kaum eine Institution hat bisher ihre führenden Leute ausgetauscht, in den Chefetagen der Zeitungen und Behörden tummeln sich die früher IHM und IHR huldigenden Leute. Es ist, als gäbe es eine neue Solidarität derer, die die Kompromisse kennen, die in ihnen gelebt haben, gegenüber dem Neuen, das niemand mit Leben füllen will. Das gilt zumindest für die Älteren.
Drohung mit Gefahr
als Machtspiel
Außerdem weiß niemand so richtig, wie es weitergehen soll. Die neue Regierung und der „Rat der Front der nationalen Rettung“, deren Verdienste während und nach dem Aufstand keiner bezweifelt, sitzen zwar fest im Sattel. Die Horrormeldungen über die 30.000 in den Karpaten versteckten Securitate-Mitglieder sind nicht wahr, es mögen vielleicht ein paar Hundert sein. Aber es drängt sich jetzt die Frage auf, warum jetzt nicht öffentlich über die Umstrukturierung der Securitate diskutiert wird, und warum keine Akten zugänglich gemacht werden. Die Rechtfertigung der Führung, die Gefahr sei noch gegenwärtig, verliert zunehmend an Bedeutung.
Sie wird langsam zum politischen Trick und als Teil des Spiels der Führung begriffen, ihre Macht zu verfestigen. Vor allem diejenigen, die die Revolution erkämpft haben, wollen das aber nicht mehr hinnehmen.
Als am Samstag abend die Nachricht kam, eine Studentendemonstration zum Andenken an die Gefallenen sei verboten worden, war unter den Studenten die Empörung groß.
Unmut unter Studenten
gegen die Führung
Sie kritisierten immer wieder, daß Ion Iliescu, der neue Vorsitzende der Front, Ceausescu nur vorwarf, den Marxismus -Leninismus nicht richtig angewendet zu haben. Und sie erklärten am Sonntag nach einer erregten Debatte im Politechnikum, „vom Kommunismus und auch vom Sozialismus die Nase voll zu haben“. Zwar entsprachen sie dem Wunsch der Führung, auf ihre Demonstration zu verzichten - die Temperatur von minus zehn Grad war dabei hilfreich -, doch machten sie unmißverständlich klar, daß sie sich im Rat der „Front zur Errettung der Nation“ nicht mehr vertreten fühlten. Zumindest nicht von denjenigen dort, die für die Studenten sprechen sollten. Denn das seien Leute, die im alten Regime die Studentenzeitungen gemacht hätten. Wenn die nicht bis zum 14. Januar zurückträten, käme es zum Streik. Die Studenten beschlossen zudem, eine unabhängige Studentenunion zu gründen.
Jugend drängt vorwärts
Wenn dieses Beispiel Schule macht, bläst der Regierung bald ein starker innenpolitischer Wind entgegen. Denn auf der Versammlung erklärten auch junge Arbeiter ihre Absicht, eine neue Gewerkschaft zu gründen. Die strukturellen Veränderungen, die Demokratisierung der Institutionen haben damit begonnen und werden nur gegen den Widerstand vieler Älterer durchgesetzt werden können. Immer noch ist es die Jugend, die den Prozeß vorwärtstreibt, ist denn auch die einhellige Meinung der Intellektuellen, die sich in ihren Institutionen noch immer nicht aus den Startlöchern trauen. „Noch befinden wir uns in einem Stadium wie damals die DDR unter Egon Krenz“, erklärt ein Redakteur der 'Neuen Literatur‘.
Die Rolle der Jugend
beim Sturz des Diktators
Und tatsächlich war es ja auch die Jugend, die den Diktator gestürzt hat. Langsam kristallisiert sich nämlich heraus, daß die Ereignisse auf dem Platz, als Ceausescu seine Massenveranstaltung abhalten wollte, nicht nur spontan entstanden sind. Einige organisierte Gruppen von 100 bis 200 Leuten hatten Parolen gerufen und mit den Soldaten diskutiert, auch nachdem am 21. Dezember schon Schüsse gefallen waren. Sie hatten die Nacht durch demonstriert, Soldaten Blumen geschenkt und so mitgeholfen, die Gewehre umzudrehen. Diese Diskussionszirkel, die sich nach dem letzten unerträglichen Jubelparteitag Ceausescus gebildet hatten, gaben den Ausschlag hier in Bukarest.
Noch haben sie kaum ein Programm, noch kennen sich die Mitglieder untereinander kaum, noch bleiben die Positionen vage. Doch es gibt sie wieder, die Parteien, die den demokratischen Prozeß beschleunigen möchten. In schneller Reihenfolge melden sich neue oder auch längst vergessene alte politische Strömungen zu Wort.
Ahnengalerie der Parteien
Als am vergangenen Freitag im Intercontinental die neuformierten Parteien und Vertreter des „Rates der Front zur Rettung der Nation“ zusammentrafen, um die Gespräche am runden Tisch vorzubereiten, wurde zum ersten Mal seit über 40 Jahren wieder auf einer breiteren Basis über die Zukunft des Landes diskutiert. Doch hatte die Versammlung auch einen tragikomischen Aspekt: Da saßen einträchtig die 80jährigen der historischen „Bauernpartei“, der „nationalchristlichen Partei“ und der monarchistischen „Partei freier Rumänen“ nebeneinander - es sind Mitglieder von Zusammenschlüssen, die alle einen mehr oder weniger chauvinistischen und reaktionären Charakter haben. Freilich möchten sie jetzt auch zur Demokratisierung des Landes beitragen. Doch nicht ganz unvergessen sind die faschistischen Tendenzen in der Zwischenkriegszeit, die vor allem durch die nationalchristliche Partei repräsentiert werden. Angesichts dieser Ahnengalerie gelang sogar FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff, der am Wochenende für einen Tag in Bukarest weilte, ein Bonmot: Diese Leute wollten zwar glatt rasiert sein, doch gleichzeitig die alten Bärte beibehalten. Wenn nun über die Wiedervereinigung mit der sowjetischen Republik Moldawien gesprochen wird, dann sind die diese Parteien an vorderster Front. Die Frage ist nur, ob sie auch wieder Einfluß erhalten. Es ist stark zu bezweifeln.
Nur vage Programme
Doch auch die neuen Parteien bleiben in ihrer Politik sehr vage. Wie sollten sie auch schon mit fertigen Programmen aufwarten können. Die otkartische Partei Rumäniens, die so schnell wie möglich einen marktwirtschaftlichen Weg einschlagen will, hält von dieser Art Chauvinismus nichts. Ihr Anliegen ist der Anschluß an Europa. Ihr Vorsitzender Nicolae Castel, ein eleganter, dem französischen Kulturkreis nahestehender Mann um die 40, sieht nur in einer Modernisierung und Europäisierung der Gesellschaft eine Chance für die weitere Entwicklung. Dagegen wollen die Grünen sich als Bewegung verstehen, die in allen Parteien das Anliegen der Ökologen stärkt. Programmatisch hat diese Gruppe jedoch nichts zu bieten, außer, daß viele Straßenkämpfer in ihren Reihen sind. Auch bei den Intellektuellen regt sich einiges. Neue Zeitungen sollen gegründet werden und neue Diskussionforen entstehen. Die Minderheiten haben mit dem „Demokratischen Forum der Deutschen“ und der „Demokratischen Union der Ungarn“ ebenfalls ihre Gruppen gebildet. Selbst die Roma wollen sich organisieren, doch noch sind diese Gruppen am runden Tisch nicht vertreten.
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