: Vertriebenenverbände entdecken die DDR
Mehr als vier Millionen Ost- und Sudetendeutsche als Zielgruppe für Propaganda avisiert / Hilfe für Aufbau eines Ostverbandes in der DDR angeboten / Einmischung in Wahlkampf gefordert / Vertriebene wollen nicht als Rechtsradikale diffamiert werden ■ Von Charlotte Wiedemann
Bonn (taz) - Freiheit ist in Deutschland die Freiheit, Revanchismus zu propagieren. So läßt sich übersetzen, was der Generalsekretär des Bundes der Vetriebenen, Hartmut Koschyk, gestern in Bonn verkündete: „Maßstab der Liberalisierung in der DDR ist, ob sich die Vetriebenen dort genauso entfalten können wie hier.“ Koschyks Organisation, der Dachverband von annähernd 20 Landsmannschaften, hat nun die DDR als „Tätigkeitsfeld“ entdeckt. Mehr als vier Millionen „geistig ausgehungerte“ Ost- und Sudentendeutsche, rund ein Viertel der DDR-Bevölkerung also, werden als direkte Zielgruppe anvisiert. Sie sollen sich zusammenschließen, ohne dabei als Rechtsradikale „diffamiert“ zu werden, und der Vertriebenenverband West will den Landsleuten Ost „beim Aufbau einer Organisationsstruktur behilflich sein“.
Damit es mit der DDR-Liberalisierung nach seiner Fasson zügig vorangeht, fordert Koschyk zugleich eine massive Einmischung in den „mitteldeutschen“ Wahlkampf: Die Materialien für die Oppositionsgruppen sollen gleich in der Bundesrepublik erstellt werden, um sie in der DDR „in großer Auflagenzahl zur Verteilung“ zu bringen.
Wo das „Tätigkeitsfeld“ DDR östlicherseits endet, ließ der Vetriebenenfunktionär gestern offen: Aber jedenfalls nicht an der „Oder-Neiße-Linie“. Dabei mehren sich unter konservativen Bonner Politikern die Stimmen, die eine Wiedervereinigung ohne vorherige Anerkennung der polnischen Westgrenze nicht für möglich halten, und auch im Kanzleramt wird über Modelle eines gesamtdeutschen Anerkennungsakts nachgedacht. Die Vetriebenenfunktionäre reagierten auf die Äußerungen von Genscher, Süßmuth und von Weizsäcker zur Jahreswende mit Verratsgeschrei. Daß nun auch Helmut Kohl zugunsten gesamtdeutscher Realpolitik die Vertriebenenlobby verprellen könnte, wollte Hartmut Koschyk gestern in Bonn jedenfalls nicht glauben: „Es muß deutsche Politik sein, so viel wie möglich von Deutschland zu erhalten.“ Zur Staatsraison eines wiedervereinigten Deutschland müsse gehören, mit Polen einen „für beide Seiten tragbaren Ausgleich“ hinsichtlich der „deutschen Ostgebiete“ zu finden. Zum Beispiel so: „Man kann sich territorial -geographisch in der Mitte treffen.“
Für ihre Gebietsansprüche planen die Vertriebenen in diesem Jahr eine propagandistische Offensive: Da paßt es gut, daß sich die Verkündung der „Charta der Heimatvertriebenen“ von 1950 zum vierzigsten Mal jährt.
Eine „Serie von Veranstaltungen“ steht da an, und Postminister Schwarz-Schilling hat auch schon eine Sonderbriefmarke versprochen. An Geld für den revanchistischen Werbefeldzug wird es nicht mangeln: Allein die institutionelle Förderung der Vertriebenenverbände aus dem Bundesetat hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Und neben diesen nunmehr drei Millionen Mark fließen der Lobby noch Mittel aus diversen anderen Haushaltsposten zu.
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