: Pekinger Zustände
Auf dem Tienanmen lädt nur eine beschädigte Treppe zur Erinnerung an die historischen Ereignisse des vergangenen Jahres ein ■ Von Simone Lenz
Berlin (taz) - Nicht Gedenktafeln oder Blumen für die Opfer der Niederschlagung der Demokratiebewegung, die auf der heute wieder geschäftigen Changan Straße den Schüssen und Lynchmorden des frühen Juni zum Opfer fielen, halten zur Besinnung an - man sucht sie vergeblich. Anhalten dürfen auch nicht die Fahrrad- oder Autofahrer, wenn sie auf der breitspurigen Ost-West-Achse durchs winterlich kalte Peking den Platz des Himmlischen Friedens passieren.
Noch ist der Platz vis-a-vis der „Verbotenen Stadt“ verboten. Und weil das Innehalten nicht nur zur Betrachtung, sondern auch zur Versammlung einladen könnte, müssen sich Fußgänger vor den Sperren der bewaffneten Volkspolizei einen anderen Weg entlang der alten Kaiserstadt suchen. Doch wie sich dort heute überwiegend chinesische Touristengruppen von der in jedem Detail symbolisierten Harmonie zwischen Himmel und Erde und den Insignien des Drachendrohns bestechen lassen, sind es auch überwiegend Schulklassen und Reisegruppen, die ohne aufwendige Prozedur und Passierschein auf den Tiananmen gelangen. Auf der Suche nach den Spuren der Demokratiebewegung oder des 4.Juni verharren sie vor der von einem Panzer beschädigten Treppenstufe am Heldendenkmal der Revolution.
Überzeugen sollen sich vor allem die wenigen Touristen aus dem Westen, daß sich die Lage in Peking wieder normalisiert hat, die Stadt bislang zwar noch unter Kriegsrecht stand, Militärs und Polizei aber längst nicht mehr das Straßenbild bestimmen. Es stimmt, daß Ausweiskontrollen erst abends zwischen zehn und elf Uhr einsetzen, westliche Touristen, wenn sie nicht gerade zum Fotografieren anheben, davon ausgenommen sind. Taxifahrer, die sich ohne Nummernschilder in die Konkurrenz um das mit westlichen Devisen erkaufte FEC -Geld der zahlenden Gäste begeben, wissen die Straßensperren jedoch sicher zu umschiffen. Kriegsrecht, das bedeutet aber auch, daß die Angst jener an der Bewegung Beteiligten, die von willkürlichen Verhaftungen zu berichten wissen, noch begründet ist: Sechs Jahre Haft für einen Steinwurf, zehn Jahre für den Besitz von Waffen. Zur vorübergehenden Festnahme werden Beschuldigte mit 20 weiteren Personen eingepfercht. Die Prozesse finden im Geheimen statt, die Urteile werden den Betroffenen formlos in die überfüllte Zelle gerufen. 50 Personen sollen im Dezember in Gewahrsam genommen, einem Bekannten beide Beine in der Haft gebrochen worden sein.
Doch auch nach einer Aufhebung des Kriegsrechts wird es noch Todesstrafen für jene geben, denen vorgeworfen wird, Polizisten oder Soldaten der Volksarmee umgebracht zu haben. Hinrichtungen für jene, die im Zuge der Säuberungskampagnen der Bestechung beschuldigt wurden. Und es wird noch den doppelten Diskurs geben, mit dem die Pekinger und selbst Ministeriumsangestellte in den höchsten Rängen vorschriftsgemäß von den Ereignissen und der Reaktion der Regierung sprechen, während Augen und Tonfall einen anderen Text erzählen. Präzise Versprecher kommentieren die Umdeutung der Protestbewegung zu einer „Hand voll konterrevolutionärer Rowdies“. Manche sagen ganz offen, daß die jetzige Regierung sich nicht lange halten wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen