: Keine Pfiffe für den Gast
■ Gorbatschow wurde bei seinem Besuch in Litauen überraschend freundlich empfangen / „Vom Verhandlungsweg hängt auch mein eigenes Schicksal ab“
Berlin (afp/dpa) - Die Sowjetunion solle eine „neue Föderation“ und eine „neue Form der Souveränität“ ansteuern, sagte der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow am Donnerstag zum Auftakt seines dreitägigen Besuches in Litauen vor Demonstranten, die sich auf dem Leninplatz in Vilnius drängten. Die Begrüßung war herzlicher, als viele zunächst befürchtet hatten. Die Menge hatte Fahnen in den litauischen Farben mitgebracht, aber auf nationalistische Slogans verzichtet. Sie begrüßte den Kremlchef mit freundlichem Applaus. „Wir müssen unsere und eure Meinung berücksichtigen, und dabei kann es keine absolute Freiheit geben. Wir setzen den Verhandlungsweg fort. Ich bin derjenige, der diesen Weg gewählt hat, und mein eigenes Schicksal hängt von dieser Entscheidung ab“, sagte Gorbatschow, der bei seinem ersten Bad in der Menge von seiner Frau Raissa, dem litauischen Parteichef Algirdas Brazaukas und dem Führer des moskautreuen Flügels der litauischen KP, Mikolas Burokavicius, begleitet wurde.
Zu den Unabhängigkeitsforderungen sagte Gorbatschow, daß es nach 50 Jahren des Zusammenlebens schwer zu entscheiden sei, „wer von uns wer ist“. Doch sei es die gefährlichste und aussichtsloseste Politik, die Rechte der Völker zu mißachten. Scharf verurteilte Gorbatschow Ausschreitungen in Estland und in Moldawien, wo Nationalisten ebenfalls die Unabhängigkeit fordern. Im Falle Estlands deutete er die Möglichkeit an, eine autonome Republik zu bilden, die später über ihre Zugehörigkeit zur Sowjetunion entscheiden könne.
Die litauische Volksfront hatte hingegen zu einer Demonstration für völlige nationale Unabhängigkeit am Donnerstag nachmittag aufgerufen. Zu ihr strömten Demonstranten aus allen Teilen Litauens. In der katholischen Kathedrale von Vilnius wurde eine Messe für ein freies Litauen gefeiert.
Vitautas Landsbergis, der Vorsitzende von Sajudis, sagte, daß Gorbatschow als Oberhaupt der Sowjetunion willkommen sei. Aber die Demonstranten wollten „Gorbatschow und dem Zentralkomitee zu verstehen geben, daß Litauen in der gleichen Lage ist wie Osteuropa“, dem eine Befreiung von der aus Moskau geleiteten Parteiführung zugestanden worden sei.
Gorbatschow ist der erste sowjetische Staatschef, der Litauen seit seiner Annexion im Jahre 1940 besucht. Er will versuchen, die litauische KP, die sich Ende Dezember von der KPdSU abgespalten hatte, zu einem Kompromiß zu bewegen. Allerdings wird er auch mit Burokavicius sprechen, dem Führer der moskautreuen Minderheit der litauischen KP, die sich von dieser abspaltete. Das Zentralkomitee der KPdSU, das sich Ende Dezember vorigen Jahres für den Gorbatschow -Besuch Litauens ausgesprochen hatte, will nach seiner Rückkehr endgültige Entscheidungen hinsichtlich der Abspaltung der litauischen KP fassen.
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