piwik no script img

Das europäische Jahrhundert

Lester Thurow vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) prophezeit:  ■ D O K U M E N T A T I O N

Das 21. Jahrhundert könnte wieder ein europäisches werden. Gehen wir vom 31.12. 1992 aus. Dieses Datum bezeichnet das Ende des 20. Jahrhunderts, das Ende der Nachkriegszeit und das Ende einer von den USA dominierten ökonomischen Epoche. Es wird immer schwieriger, eine Weltfirma mit einer bestimmten Nation zu identifizieren. Wird Honda, um ein Beispiel zu nennen, auch wenn es in den USA mehr produziert und mehr verkauft, noch immer eine japanische Firma sein? Die nationalen Regierungen werden an Macht verlieren, sie werden ihre Nationalökonomien immer schwerer kontrollieren können. So gesehen ist Frau Thatcher zurückgeblieben. Mindestens um 20 Jahre. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen verschiedenen Wirtschaftszonen werden. Wenn es den Europäern gelingt, sich richtig zusammenzuschließen, so werden sie etwas aufbauen, gegen das niemand ankommt. Wichtig ist dabei, daß es den Europäern gelingt, auch die 13 anderen Staaten, die heute nicht in der EG sind, zu assoziieren. Sicher, es geht nicht um das eine oder andere kleine Land. Aber es macht einen Riesenunterschied, ob die Sowjetunion drinnen oder draußen ist. Zweitens ist zentral, ob die osteuropäischen Länder schnell Marktwirtschaften werden. Stellen Sie sich einen Block von 25 Ländern vor, keines davon wirklich arm, mit den besten Bildungssystemen der Welt und der Basis für eine funktionierende Infrastruktur.

Sehen wir uns verglichen damit den Pazifik an. Japan hat ein riesiges Problem: Sein traditioneller geographischer Handelspartner China hat keine Infrastruktur, die mit der Osteuropas zu vergleichen wäre, und die gegenwärtige Regierung dort geht sicher nicht in Richtung Marktwirtschaft. Was die berühmten kleinen Tiger - Taiwan, Singapur, Hongkong - angeht, so fehlt ihnen einfach die nötige Bevölkerungszahl. Sie werden niemals Importländer von der Statur Osteuropas werden. Sie werden auch im nächsten Jahrhundert nicht weiter so stark in die USA exportieren können wie in den letzten Jahren. Die geographischen Handelspartner der USA sind die Länder Lateinamerikas: 300 Millionen Menschen, aber eine riesige Analphabetenquote, zerrüttete Ökonomien, riesige Strukturprobleme. Hier sehe ich keine Möglichkeiten. Die notwendige Voraussetzung für den Aufschwung Europas, die Verwandlung der östlichen Planwirtschaften in Marktwirtschaften muß freilich schnell vonstatten gehen, sonst führt das zu unlösbaren Problemen beim Einsatz von Arbeitskräften, führt zu Korruption und dem Durchsetzen separater Interessen. Wenn es zu schnell geht, dann riskieren sie den Zusammenbruch. Es geht, glaube ich, um die Beziehung von Demokratie und Lebenswirklichkeit: Wenn es etwas gratis gibt, dann will ich das nicht verlieren, nur um eines Systems willen, das mir erst für morgen ein besseres Leben versprechen kann. Denken sie an die Mieten. Alle haben sie Mietwohnungen zu einem politischen, künstlich niedrig gehaltenen Preis. Wer will diesen Vorteil verlieren zugunsten des gelobten Landes?

Die Leute beschäftigen sich mit den falschen Problemen. Wenn Bonn die Wahl hätte, wäre es für die Wiedervereinigung. Die BRD will aber in Wahrheit beides: die DDR integrieren und sich in Europa integrieren. Das ist gar kein Widerspruch. Im Gegenteil. Nehmen wir ein Beispiel: Eines der größten Probleme der EG sind die Handelsüberschüsse der Bundesrepublik gegenüber fast allen ihren Partnern. Nun, wenn Ostdeutschland und noch ein paar dazukommen, wird ein Teil des Überschusses von den Neuankömmlingen absorbiert werden. Bonn könnte endlich Lokomotive spielen, die Wachstumsraten erhöhen, und auch Italien, Frankreich und Großbritannien könnten Maschinen exportieren und ihre derzeitige Position verbessern. Der Osten, glauben Sie mir, ist die Chance für die EG. Beide Integrationen werden bestens miteinander funktionieren.

1992 wird sicher nicht allen Regionen Europas bekommen. Die Probleme des Regionalausgleichs werden Europa beschäftigen müssen. Mit einem Bevölkerungswachstum nahe Null würde die BRD sich mit gebremstem Wachstum begnügen. Durch die Integration des Ostens aber könnten Wachstumsraten entstehen, die es erlauben würden, die regionalen Unterschiede zu verringern.

P.Valenti, gekürzt aus

Corriere della Sera

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen