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■ Kleiner Streifzug durch die klassenlose Gesellschaft

Gabriele Goettle

Karl-Marx-Stadt, 24.11.

Hier wollen wir eine Ärztin besuchen. Sie ist 1895 in Dänemark geboren, studierte in Deutschland Medizin, wandte sich in den zwanziger Jahren der Homöopathie zu und verkehrte im Kreis der Künstler und Literaten des „Sturm“. Heute ist sie die älteste noch praktizierende Ärztin im deutschsprachigen In- und Ausland.

Bis zum verabredeten Termin verbleibt noch etwas Zeit, um die Stadt anzusehen, was aber schwieriger ist als erwartet. Es gibt kein Zentrum. Nur ein lang dahinwucherndes Gefüge aus desolaten Altbauvierteln, Lagerhallen, Textilfabriken, Hoteltürmen, Wohnsiedlungen im Stil der „Neuen Heimat“ und endlosen Neubauwüsten. In der Nähe des Busbahnhofes findet sich dann doch eine modern gestylte Fußgängerzone, ausgestattet mit Spezialgeschäften für Freizeit, Sport, Haushalt und Textilien, mit Grillrestaurant, Weinstube und großer Buchhandlung, an der eine Tafel hängt: „Hier befand sich die erste Bücherstube der KP in dieser Stadt.“ Was andernorts längst vergriffen ist, findet man hier, nur einen Stadtplan nicht. Den hätte man leichter in Dresden bekommen können. In den Auslagen werden die erlesenen Druckerzeugnisse präsentiert, daneben auch ein großformatiger Kalender für 1990 mit einem Softporno für jeden Monat. Der Absatz scheint reißend.

Frau Dr.S. wohnt im Süden der Stadt. Oben am Hügel in einer schmucken Reihenhaussiedlung aus den zwanziger Jahren. „Staatlich anerkanntes Naherholungsgebiet“, steht auf einer Tafel am Eingang der Straße. Die Greisin öffnet, ist gut beieinander, bittet uns, nach festem Händedruck, forsch ins Haus und geht mit geradem Rücken vor uns her. Es ist, als hätte man einen gewaltigen Schritt gemacht, heraus aus der Geschichte, aus der DDR, zurück in die dreißiger Jahre. Hier haust sie, unberührt, die saloppe Gemütlichkeit einer toleranten Bourgeoisie, die sich innere Emigration leisten kann. Ledersessel, Bauhauslampen, Orientteppiche in mehreren Lagen übereinander, Bücherregale mit den Beständen der Zeit, Gemälde, Aquarelle von Künstlern aus jenen Tagen und Biedermeiervitrinen, randvoll mit altem Meißen, alles an seinem Platz.

Die Kaffeetafel ist gedeckt wie zur Kunstauktion. Jeder Antiqitätenhändler bekäme feuchte Hände angesichts des Geschirrs mit den blaßblauen gekreuzten Säbeln auf der Unterseite. Nur, halten lassen sich die zarten Tassen gar nicht gut, der Henkel ist irgendwie verziert. Auch die silbernen Löffelchen und das Zuckerzängchen widersetzen sich durch allzu große Zierlichkeit ihrem Zweck. Und zuletzt die Tischdecke, aus Batist, hat eine derartig fein mit der Hand gearbeitete Hohlsaumstickerei, daß es vor den Augen schwirrt.

„Kleckern Sie sich meinetwegen auf die Hosen, aber nicht aufs Gedeck, wenn es geht“, sagt die Ärztin und beobachtet mich streng beim Einschenken. Dann erzählt sie von ihren Reisen, die sie jedes Jahr macht, nach Paris, New York, Wien und durch Dänemark. Dort überall behandele sie ihre Patienten in den Hotelhallen, höre sich die Gebrechen an, verschreibe neue Rezepte und werde gut honoriert. Nebenan in einer ehemaligen Garage betreibe sie immer noch ihre Praxis, Sprechstunden dreimal wöchentlich, da behandle sie „alles“, vom Direktor über den Arbeiter bis hin zum Haustier.

Der Mann ist seit Jahren tot. Auch er habe eine eigene große Parxis gehabt, nebenbei noch gemalt und geschrieben. Sie holt den großen Band über den „Sturm“, vor ein paar Jahren in der DDR erschienen, und zeigt uns die Stelle, wo etwas über den Gatten steht. Auf die Frage, weshalb sie und ihr Mann in der DDR geblieben seien, sagt sie: „Das ist ganz einfach! Mein Mann war ein überzeugter Sachse und Bergsteiger.“ Es folgen lange Geschichten über den „Sturm“, den Kreis um Herwarth Walden, die Freundschaft mit Liebmann, von dem sie, so nebenbei und ohne mit der Wimper zu zucken, sagt: „Ach ja, der arme Liebmann... der war ja nun fünfundzwanzigprozentig verjudet und mußte 1935 ausscheiden aus dem Dion-Verlag. Wie haben wir ihm alle zur Emigration geraten, aber er wollte nicht.“

Wir gehen nach einigen Stunden - ohne gekleckert zu haben.

Leipzig, 25.11.

Messe- und Heldenstadt. Sie stinkt. Auf den Straßen wird viel gespuckt, alle paar Meter kann man Auswurf in allen Zähigkeitsgraden studieren. Eine der Ursachen befindet sich gleich in der Innenstadt: Das Kraftwerk Dimitroff. Der Schornstein raucht. Nebenan liegt ein rußbestäubtes Krankenhaus und hat vor der Pforte seine Personalwünsche ausgehängt: Schwestern, Ärzte, Stations- und Küchenpersonal werden dringend gesucht.

Unsere Gastgeberin ist Haus- bzw. Wohnungsbesetzerin, wohnt nahe beim Zentrum im Bezirk Gohlis. Das ist einer jener Bezirke, in denen ganze Straßenzüge leerstehen. Die vier und fünfstöckigen Häuser aus dem vorigen Jahrhundert sind schwarz von Ruß, ruinös und sollen abgerissen werden. Man sieht ihnen aber immer noch an, daß sie einstmals solide und schön waren. Nun lösen sich die Stuckfassaden in ganzen Partien ab, aus den Regenrinnen wächst Moos und zwischen den Häusern der Schutt dessen, was bereits abgerissen und nicht abtransportiert wurde.

Ein junger Mann öffnet nach längerem Klingeln die Tür und wirkt verschlafen. Er trägt jenes Outfit, das offensichtlich bei DDR-Kulturschaffenden recht beliebt ist und bei uns durch Dissidenten wie Brasch und Krawczyk bekannt geworden ist. Kurzgeschorenes Haupthaar und Stoppelbart. Wir werden umstandslos hineingebeten. Wenig später haben wir Tee. Der Heizlüfter ist in vollem Lauf, und aus dem Nebenzimmer kommt ein gähnender Mensch im Bademantel. Er ist Westler, stellt sich heraus, und in Westmanier reißt er sofort das Gespräch an sich, forscht uns aus und berichtet dann mit wichtiger Miene von seiner bevorstehenden Akkreditierung in Leipzig für irgendeine hannoversche Zeitung. Dagegen sei Dublin - wo er bisher war - ein „echt langweiliges Nest“. Dann und dort sei eine Pressekonferenz, zu der wir unbedingt hinmüßten, beschwört er uns, es kämen all die „wahnsinnig wichtigen Leute“, mit denen man reden müsse. Unser Desinteresse macht ihn neugierig, er vermutet, wir seien auf etwas ganz Spezielles „angesetzt“. Schon aber muß er zu einem wichtigen Termin, was uns freut.

Der Geschorene ist auch nur zu Besuch, lebt in Ost-Berlin, schreibt Hörspiele und Drehbücher. Er erzählt uns von den Hausbesetzungen, die es seit mehreren Jahren gibt, wie man den Leuten die Wohnungen ohne Probleme legalisiert hat unter der Bedingung, daß vom Bezirk keinerlei Hilfeleistungen erwartet werden. Dachdecker weigern sich ohnehin, diese Dächer zu betreten, alles muß in Eigeninitiative gemacht werden. So klettern sie dann, angeseilt und unerfahren, auf den Dächern herum und versuchen wenigstens das Durchregnen halbwegs zu verhindern mit Planen usw. Dachpappe ist nicht aufzutreiben, noch weniger Ziegel. Die Mühe lohnt sich aber. Man hat - wo doch sonst für eine Person lediglich die vorgeschriebene Einraumwohnung erlaubt ist - eine Vierraumwohnung mit Holzböden, moosgrünen Kachelöfen, schönen Türen, hohen Fenstern; und das alles für 35 Mark Monatsmiete. Da nimmt man das Klo auf der Treppe und die fehlende Badewanne gern mit in Kauf.

Arona, die Wohnungsbesetzerin, kommt und heißt uns willkommen. Sie hat Karten mitgebracht für die „Internatinale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche“, wirft sie auf den Tisch und sagt: „Geschafft! Man muß ja bei uns leider zu solchen Mitteln greifen, sonst ist an ein Reinkommen überhaupt nicht zu denken.“ Die Karten sind gefälscht. Offensichtlich sehr gut. Wir können keinen Unterschied zum Original erkennen. Arona ist Mitte Zwanzig, studiert an der Karl-Marx-Universität Philosophie, sieht mit dem brav gescheitelten Blondhaar aus wie ein Lamm und interessiert sich für die Schriften von Habermas. Sie bietet uns Karten an und kann gar nicht verstehen, daß wir sie nicht wollen, holt das Programm und liest begeistert vor, hält dann inne und sagt: „Na ja, sowas könnt ihr ja wahrscheinlich öfter sehen. Dann will ich euch wenigstens was zum Lesen geben.“ Wir bekommen einen Stapel Untergrundschriften.

Allmählich füllt sich der Raum, die Freunde kommen, Karten werden verteilt. Offensichtlich funktionieren in der DDR einige gesellschaftliche Rituale noch ungebrochen, es scheint sogar, als wären es nicht nur Rituale. Jeder neuangekommene Besuch begrüßt uns mit festem Händedruck, nennt seinen Namen, fragt nach dem Woher und Wohin, erzählt ein bißchen von sich, von der Uni, der Arbeit und vom Neuen Forum. Das geschieht derart unbefangen und freundlich, daß selbst eingefleischten Misanthropen freudige Empfindungen nicht erspart bleiben.

Platten mit Wurstbroten werden herumgereicht, Weingläser, ein älterer Mann mit Baskenmütze erzählt von der letzten Montagsdemonstration und bietet uns seinen Wohnungsschlüssel an, er habe Bad und Zentralheizung, sagt er, falls wir Gebrauch davon machen möchten. Dann brechen alle voller Vorfreude auf zu den Filmen. Arona ruft uns zu: „Daß ihr ja alles stehn laßt, das machen wir später! Und wenn ihr Hunger bekommt, schaut in der Küche nach, falls ihr weggeht, legt einfach den Schlüssel unter die Matte.“

Wir schauen vom Fenster aus zu, wie sie sich alle in einen alten VW hineinquetschen und davonfahren. Die kleine Straße ist von mächtigen Bogenlampen mit jenem DDR-spezifischen orangefarbenen Licht beleuchtet, auch weiter hinten, wo in den Häusern niemand mehr wohnt. Gegenüber ist in einigen Wohnungen Licht, die Fernseher flackern. Zwei alte Frauen sitzen am Tisch und essen. An der Ecke fährt mit grellem Quietschen die Straßenbahn um die Kurve, rumpelt erleuchtet und leer davon durch den Schne. Man hat so ein Gefühl des Schrumpfens, das ist die Erinnerung an die Kinderzeit, hervorgerufen durch diese Nachkriegsidylle.

Wir setzen uns aufs abgewetzte Gründerzeitsofa. Fünf Minuten Öffnen des Fensters haben gereicht, um den Raum mit Schwefelgestank zu erfüllen. Selbst die Zigarette schmeckt nicht mehr. Mit der Untergrundpresse erleben wir eine herbe Enttäuschung, es sind blasse Hektographien, zusammengeklammert, stellenweise kaum zu lesen und herausgegeben von diversen Kirchengemeinden. Ihr Zustand läßt darauf schließen, daß sie durch viele Hände gegangen sind. Nach anarchen oder antiautoren Tönnen sucht man vergeblich. In den Umweltblättern der Zionsgemeinde Berlin steht zwischen der Verteidigungsrede von Vaclav Havel, einem Artikel über den Wahlbetrug und Berichten kirchlicher Umweltgruppen ein langer Text über die Synode der Berlin -Brandenburgischen Kirche. Sie möchte, bei aller Berufung zum politischen Auftrag, natürlich nicht zu kurz kommen.

Der 'Friedrichsfelder Feuermelder‘ bringt Berichte aus Polen und Ungarn, über Reform, Demokratisierung, Preiserhöhungen und neue Armut. Dazu die Sätze: „Was auch immer geschehen mag - eins ist sicher: uns erwarten in Polen stürmische und interessante Jahre. Ein altes jüdisches Sprichwort heißt: „Möge dich Gott nicht in interessanten Zeiten leben lassen.“

Im 'Kontext‘, fast 100 Seiten stark, herausgegeben von der Bekenntnis-Gemeinde Treptow, findet sich ein kirchliches Vorwort, in dem unentwegt die Rede ist vom „christlichen Fragehorizont“, der zum „Dialog“ führen müsse, zu einem „Stück Gemeinsamkeit im Handeln“. Die betuliche Reformersprache, bemüht um Abgrenzung zum alten Parteijargon, scheint hier ihre Wurzeln zu haben. Und die Ost-Kirche hat es aus dem Westen, von der „Kirche von unten“, der Friedensbewegung. Im Kontrast dazu stehen die Texte dieser Nummer, sie sind von humanistisch -bildungsbürgerlicher Solidität, geschrieben von Akademikern, handeln von Schoenberg und der Wiener Schule, Medizin im Nationalsozialismus, Planwirtschaft in der DDR.

In der Nacht fiel Schnee. Morgens um sieben ist er bereits dunkelgrau. Als ich von einem langen Spaziergang mit den Hunden zurückkomme und sie ins Auto lasse, verläßt gerade eine alte Frau das Haus, beladen mit gestreiften Plumeaus, Decken und einem Eimer. Ich grüße sie und frage, ob ich ihr helfen kann beim Tragen: „Nu, ich hab's ja nicht weit, aber einen Moment halten vielleicht, damit ich drüben aufschließen kann“, sagt sie und reicht mir die muffig riechenden Decken. Drüben führt das Holztor hinter eine hohe Ziegelmauer auf ein chaotisch wirkendes Lagergelände. In langen Reihen sind Holzkisten aufgestapelt, in denen verschneite gelbe Glasflaschen stecken. Rechts stehen mehrere roh zusammengezimmerte Bretterschuppen, aus den Spalten lugen überall Polsterzipfel, Decken und Zeitungen hervor. Nun wird klar, wozu die Decken gebraucht werden.

Im finsteren Schuppen riecht es scharf nach Katern. Überall Kisten, darauf ausgebreitet Decken, Kissen und Wollpullover. Schon drängeln sich Katzen aller Größen und Farbschattierungen um die Beine der Frau, mauzen und krallen sich in die Schürze. Sie verteilt Brot in die Näpfe, einige Katzen lecken ihr die Reste von der Hand, andere werfen den Eimer um und verschwinden darin. Die Frau vergißt mich ganz, geht vollkommen auf in der Fürsorge um ihren kleinen Staat und spricht unentwegt in weichem Sächsisch zu den Tieren: „Nu mal immer langsam, meine Schönen, es reicht ja für euch alle, nicht vordrängen, Baschka, nun, und du, meine Kleine, lassen sie dich nicht ran? Nu isses aber gut!“ Sie sammelt einige Schüsseln zusammen und brummt: „So eine Kälte, jeden Morgen ist die Milch gefroren, und wer taut sie wieder und wieder auf?“ Mit den verarbeiteten Händen, dem Kopftuch und der Schürze sieht sie aus wie eine alte krumme Bäuererin, die ihre Hühner füttert, irgendwo weit entfernt von der Stadt.

Später beim Frühstück fragen wir Arona nach der alten Frau, und sie ist erstaunt darüber, daß ich mit hineindurfte ins „Allerheiligste“. Sie erzählt: „Die Frau M. wohnt seit den dreißiger Jahren im Haus, und als alle Mieter nach und nach ausgezogen waren, wohnte sie lange alleine hier. Alles, was ich über sie weiß, hat mir eine alte Frau aus dem Haus gegenüber erzählt, die ist aber jetzt im Feierabendheim. Demnach hat Frau M. früher mit ihrem Mann zusammen einen Flaschenhandel betrieben, nach dem Krieg habe sie das Getränkekombinat beliefert, bis vor einigen Jahren der Mann starb. Die Rente ist entsprechend gering, sie steckt fast alles in die Katzen, spricht mit keinem Menschen und bekommt vom Metzger ab und zu Abfälle geschenkt. In ihrer Wohnung hat sie ihre zwei Lieblingskatzen, jede davon bewohnt ein eigenes Zimmer und wird von der Frau von morgens bis abends bedient. Das gilt für den Winter. Im Sommer hingegen ist sie damit beschäftigt, die Flaschen zu waschen. Sie geht systematisch dabei vor, spült Kiste um Kiste, mit Seifenlauge und klarem Wasser, trocknet die Flaschen, sortiert sie wieder ein, und wenn sie am Ende angekommen ist, beginnt sie wieder von vorne, da ist alles bereits wieder schmutzig von dem Dreck, der bei uns hier herunterkommt. Sie hütet sie wie ihren Augapfel, die Katzen und die Flaschen, keine davon wird weggegeben.

Nun denkt euch mal, was mit solchen Leuten geschieht, wenn hier alles abgerissen wird, das ist ein Todesurteil. Und beispielsweise im Haus gegenüber, da leben zwei mongoloide Frauen, Mutter und Tochter. Sie sind die einzigen Mieter im Haus und voriges Jahr schon nach unten gezogen, weil es durchs Dach und die Decken regnet. Die beiden leben da ganz einträchtig mit ihren Hunden und versorgen sich selbständig. Allerdings bekommen sie nur 1,60 pro Person und Tag Sozialunterstützung, viel ist das nun wirklich nicht, auch dann nicht, wenn sie Beihilfen bekommen für Strom, Gas, Kleidung und Kohlen. Die Miete ist frei. Aber sie schaffen es irgendwie, müssen in den Geschäften hier, wo man sie kennt und mag, nicht schlangestehen, und alle spenden wir ab und zu was. Der Kontakt ist gut. Was soll aus denen werden?“

Der nervenaufreibende Westjournalist kommt in Begleitung einer Brasilianerin und des Mannes mit der Baskenmütze. Kurze Zeit später erscheint ein Paar mit Kleinkind aus der unteren Wohnung und bringt Wurst und Käse mit. Alle reden begeistert über die Filme. Der Journalist über seine Akkreditierung, seine Wohnungssuche und die Sorge, ob er wohl gleich ein Telefon bekommt. Die andern lachen, sagen, daran sei gar nicht zu denken, alle im Freundeskreis würden auf ein Telefon hoffen seit Jahren, selbst Journalisten und Ärzte. Daß man keins bekäme, sei nicht die Folge von politischen Entscheidungen, sondern des Mangels an Anschlüssen. Unser Journalist jedoch ist - im Vollgefühl seiner wichtigen Aufgabe - weiterhin zuversichtlich.

Der Mann mit der Baskenmütze ist an der Uni tätig und Ingenieur. Er schlägt uns vor, zusammen raus vor die Stadt zu fahren, wo er uns eine „einmalige Mondlandschaft“ zeigen will, das Abbaugebiet des Braunkohlereviers. Wir beschließen, wegen der Hunde, in unserem Auto zu fahren. Aber es springt nicht an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite arbeiten zwei ölverschmutzte Männer an einem Wartburg und kommen, angelockt vom Geräusch des absaufenden Motors, herüber. Der Ältere sagt: „Das wird nichts mehr, die Zündkerzen müssen raus.“ Wir stöhnen. Das bedeutet: Beifahrersitz ausbauen, Motorhaube hochstemmen. Wenigstens kann alles innen gemacht werden.

Aber der mit der Baskenmütze begrüßt die beiden freundschaftlich und sagt beruhigend zu uns: „Keine Angst, die machen das schon. Das ist der Peter, er ist Kfz-Meister, und das ist der Frank, ein echter Rallye-Fahrer.“ Wir drücken die ölverschmierten Hände und geben zu, daß wir nicht mal einen Zündkerzenschlüssel erkennen können.

Es beginnt ein mehrstündiges Suchen nach dem Fehler. Aus unserer Sicht ist die Situation nicht unkomisch. Für die beiden Männer liegt nichts Besonderes darin, allerhand Improvisationskünste spielen zu lassen. Nach mehrmaligem Trocknen der Zündkerzen oben auf dem Gasherd hat man es aufgegeben, und der Kfz-Meister sagt: „Jetzt hole ich mal russische.“ Obwohl klobig und wie fürs ganze Leben gemacht, passen sie wider Erwarten. Ebenso die Zündkerzenkappen aus VEB-Produktion, die auch aussehen, als wären sie doppelt so groß wie unsere. Da von den vielen Startversuchen unsere Batterie erschöpft ist, versucht man es mit der aus dem Wartburg. Der Motor springt an.

Nun ist für die, die gschuftet haben, eine Probefahrt fällig. Elisabeth erklärt die Fünfgangschaltung und überläßt gottergeben dem Rallyefahrer das Steuer. Er prescht elegant übers Eis davon - west-östliche Kombination in reibungslosem Zusammenspiel. Als sie zurückkommen, wird es bereits dunkel, der Ausflug erübrigt sich. Wir revanchieren uns für die Hilfe mit Westgeld und schlagen vor, gemeinsam in irgendeine Kneipe zu gehen. „Ach“, sagt Frank und lacht, „das ist hier nicht wie bei euch, alles hat zu, gehn wir doch zu mir Kaffe trinken.“ Wir nehmen unsere Batterie mit, er will sie über Nacht aufladen. Die andern wollen später nachkommen mit Arona.

Franks Wohnung ist der von Arona sehr ähnlich im Schnitt, aber natürlich nicht mit alten Sesseln, Sofas, Truhen und Bücherregalen möbliert, sondern mit plüschiger beiger Sitzgruppe, Schrankwand, Stores, Teppichboden und Blumentapete. Die Holzverschalung im Flur hat er selbst gezimmert, drunter, so sagt er heiter, werfe sich der Putz zu Blasen auf vor Feuchtigkeit.

Franks Frau Angelika ist Mitte Dreißig, schmal, dunkelhaarig und ein wenig schüchtern. Die Kinder, der Knabe sechs, das Mädchen vier, sitzen brav vorm Couchtisch und strecken uns zur Begrüßung die Hände entgegen. Alles ist blitzblank, der Kuchen wird verteilt, er ist mit Kokosraspeln gebacken, Angelika hat das Rezept selbst erfunden. Nebenbei erwähnt sie, daß sie eigentlich Diplomingenieurin sei im Bereich Chemie, aber seit Jahren nicht mehr arbeiten wegen der Kinder. „Das ist ja auch nichts für eine Frau“, sagt Frank entschieden, „aber bei uns zwingt man die Frauen einfach zu einem Studium, ob sie nun dazu neigen oder nicht!“ Sie widerspricht nicht. Mit Frank ist, seit wir in der Wohnung sind, eine merkliche Veränderung vor sich gegangen. War er vorher eher ein wenig linkisch beim Sprechen, so wirkt er nun wie der Hausvater, dem das Wort zusteht.

Er erzählt von seiner Arbeit, ohne ein einziges Mal durch Angelika unterbrochen zu werden. Beschäftigt ist er in einer dem Wirtschaftsministerium angegliederten Forschungsabteilung. Dort sollen aus allen Sparten der Volkswirtschaft die jeweiligen Erzeugnisse katalogisiert werden, vom Hosenknopf bis zum Mikrochip. Seit zwanzig Jahren wird an diesem Katalog gearbeitet, ohne daß er sich je hätte verwenden lassen. Es ist eine reine Sisyphusarbeit. Die Koordination fehlt, Betriebe geben unvollständige Listen in der Redaktion ab, die Erfassung im EDV-Verfahren liegt meistenteils lahm wegen defekter Geräte, deshalb gibt es zwei Numerierungen für die Erzeugnisse, eine sozusagen per Hand erstellt, die andere für den Computer. Alles geht durcheinander. Das Projekt hat viele Millionen gekostet, war nie effektiv, ebensowenig wie der Plan, dem es zur Grundlage dienen soll. Man betreibt es nichtsdestoweniger weiter mit eiserner Bürokrateninbrunst. Die Arbeit jedoch wird lediglich simuliert, durch Anwesenheit am aktenüberhäuften Schreibtisch.

Frank hat sich in Rage geredet und hält einen langen Monolog: „Da, der Farbfernseher, ein West-Modell, sowas bekommen sie hier nur für Forum-Schecks, da müssen sie gnadenlos bezahlen. Von der Arbeit allein kann man sich das nicht leisten. Ich zum Beispiel mache Zierkappen und Spoiler, mit allen Raffinessen. Dadurch bin ich bekannt geworden. Die Leute hier mögen das und bezahlen mit Devisen. Sie kommen zu mir und bestellen für ihren Wartburg oder Skoda Kappen, wollen sie natürlich in Metallic, ich mache ihnen das. Hab‘ das Modell gebaut und die Form gemacht, dann wird mit Polyester ausgegossen, fertig!

All die Vorarbeiten habe ich zum Teil auf der Arbeit gemacht, auch die Pläne für meinen aerodynamischen Wohnwagen. Denn es ist doch so, den wesentlichen Teil der Zeit sitzt man nur herum, und dann ist Feierabend. Dann will man sich ja zu Hause etwas erholen, es ist doch so. Auf der Arbeit macht man sich zwar so seine Gedanken ab und zu, aber das führt zu nichts, am Ende war alles umsonst, da arbeitet man doch lieber für sich. Das machen alle bei uns so, da kannst du rumgucken, wo du willst. Den Wohlstand, den wir haben - und bald ziehen wir ja um in die neue Wohnung, was auch einiges kostet -, den Wohlstand also, den verdanke ich letzt Enendes nicht meiner Berufstätigkeit, ich verdanke ihn meiner privaten Kreativität auf der Arbeit.

Das ärgert mich, man verplempert ja doch irgendwie seine Zeit. Es sind eben ganz andere Dimensionen bei uns. Wenn du drüben von der Arbeit kommst, dann hast du dein Geld schon vedient, kannst dich in aller Ruhe deinen Hobbys widmen..., der Malerei, der Politik vielleicht oder der Lebensfreude. Das ärgert mich, daß sich der Bürger hier erst mal unter die Spüle legt, weil alles schwimmt, oder unter sein Auto. Aber nicht leichtfertig, um den Motor vielleicht zu frisieren, sondern einfach deshalb, weil's notwendig ist, immerzu irgendwelche Reparaturen durchzuführen, für die dann wieder das Material fehlt. Das ist zermürbend. Und dann wartest du 17 Jahre auf dein Auto, das kostet vielleicht zweifünf, du kannst aber auch ein gebrauchtes kaufen, das kostet dich dann dreifünf, Kilometerstand über 90.000.

Früher bin ich Trabi gefahren, und das ist nicht so, wir ihr denkt drüben, das macht sogar Spaß! Spuck, ist man um die Ecke, paßt in jede Parklücke. Nur auf die Autobahn darf man nicht, dann wird es anstrengend, es zieht. Was glaubt ihr, weshalb alle mit Mantel, Hut und Schal im Auto sitzen wie auf dem Motorrad? Es ist einfach nicht warm. Aber seine hundert macht der schon. Jetzt, mit meinem Wartburg aber war mir das dann doch peinlich drüben, man kommt sich ja vor wie im Tretauto neben eurem BMW dort. Das Lebensgefühl ist ganz anders.

Andererseits, was mir nicht gefällt, ist die Lebenseinstellung. Die Werte, die wirklichen Werte, die zählen bei euch nicht. Es herrscht ein Egoismus und eine Kälte in allem, unwahrscheinlich! Die wollen erst mal leben, arbeiten, Geld verdienen, die Welt anschauen und haben kein Interesse an der Familie. Dann sind sie Ende Zwanzig und haben immer noch nicht genug. Ende Dreißig haben sie auch noch keine Ehe zustande gebracht, oder sie sind schon wieder geschieden. Dieser typische Weg hier bei uns, Schule, Lehre, Beruf, Heirat, Kinder, den gibt's bei euch nicht mehr. Da tritt vielfach das Auto an die Stelle des Kindes. Bei uns gibt's das nicht. Wenn der Kinderwunsch vom Egoismus verdrängt wird, ist an der Gesellschaft etwas faul, und ich frage mich, wer wird denn später eure Renten bezahlen?

Also, wir zum Beispiel, wir haben beizeiten unsere Kinder gekriegt“, er tätschelt dem Knaben den Kopf, „wir führen ein ganz normales Leben. Angelika ist zufrieden, ich bin es, und die Kinder haben ihre Mutter zu Hause. Bei euch wirkt man ja wie ein Trottel, wenn man so lebt. Andererseits, wenn ich so sehe, was die Kinder bei euch für Möglichkeiten haben, in der Schule und für die Zukunft, dann würde ich unsre beiden am liebsten nehmen und rübergehen. Drüben haben die Gleichaltrigen einen viel größeren Wortschatz, davon habe ich mich selbst überzeugt. Was mich unter anderem abhält, ist das mit den Drogen und diese Punks oder Skinheads, das ist erschütternd. Meiner dürfte mir später mal nicht so nach Hause kommen. Man muß eben mit seinen Kindern vernünftig reden, in aller Strenge und beizeiten. Dann kommen sie ganz alleine zu den richtigen Urteilen.

Wir haben ja nun hier diesen Umbruch, alles kam viel zu schnell, es geht überall drunter und drüber, die Leute können nicht mehr schlafen und sind verstört. Wir gar nicht so. Ganze Nächte haben wir drüben diskutiert mit unseren Verwandten, ich bin raus aus der Partei, also ich muß sagen... wir, Angelika und ich, wir sind jetzt Republikaner. Wer nicht! Wir haben das alles überlegt. Genau wie ihr haben wir hier das Problem mit den Ausländern, nur daß es eben nicht Türken sind, sondern Polen, Vietschis und Neger.“

Wir fragen, was „Vietschis“ sind, und erfahren, daß es sich um das gängige Schimpfwort für die Vietnamesen handelt. Frank fährt fort: „Das ist ein Verbrechen, daß man diese Leute ins Land läßt in so großen Mengen. Die führen sich nicht gerade gut auf, sie belästigen unsere Frauen und kaufen unsere Läden leer, um die Waren nach Hause zu schicken. Das solltet ihr mal sehen, mit was für Paketen die jeden Monat zur Post gehen, das kann ein Mensch alleine gar nicht tragen.

Aber ich glaube, daß der Zulauf bei den Republikanern, auch hier jetzt bei uns, nicht nur deshalb kommt, sondern auch wegen dem Bedürfnis der Deutschen nach Stolz. Warum sollen wir keinen Nationalstolz haben, die Amerikaner haben ihn, die Franzosen, und dort gibt es auch Republikaner, und keiner regt sich darüber auf. Die Vergangenheit ist vorbei. Gerade wir hier, wir haben sie ja wirklich abgebüßt, nun muß auch mal Schluß sein. Allerdings gibt es da ein Problem, das mich stört, der Herr Schönhuber. Warum setzt man einen Mann mit so einer Vergangenheit an die Spitze? Hat man denn keinen besseren gefunden, der hier graue Emimenz sein kann und sauber ist? Aber das werden sie wohl schnell einsehen und es ändern.

Vom Grundanliegen her jedenfalls ist mir das alles sehr sympathisch, wir sollten alle viel mehr nationalistisch denken, besonders jetzt, das kann doch gar nicht verkehrt sein. Und das Faschistische, das man ihnen nachsagt, das stimmt ja nicht, da sind vielleicht ein paar verwahrloste Jugendliche oder ein paar unbelehrbare Alte, die haben ein fehlendes Schuldverständnis, aber die Masse denkt anders, davon bin ich überzeugt! Da lasse ich mich nicht beirren. Das Gedankengut ist auf ein richtiges Ziel ausgerichtet, und dafür setze ich mich ein hier. Solche Zielvorstellungen fehlen ja ganz, wir brauchen sie dringend, wenn es irgendwo weitergehen soll und vor allen Dingen, endlich aufwärts. Dann brauchen wir auch keine russischen oder amerikanischen Schutzmächte mehr, die uns vorschreiben, was wir zu machen haben.

Was ich mir noch wünsche, das ist eine Datscha, ein Häuschen irgewndwo vor der Stadt mit allem Drum und Dran. Mit einem Birnbaum vielleicht und Stachelbeeren, wo man sein Leben genießen kann am Wochenende und in den Ferien. Aber nächste Woche ziehen wir erst mal um, und dann wird ohnehin alles ein bißchen besser mit dem Bad und dem Balkon.“

Wir bedanken und verabschieden uns, versprechen, daß wir morgen früh um sechs Uhr wach sein werden, damit die Batterie eingebaut werden kann.

Bei Arona sitzen alle beisammen und sind erstaunt, daß wir schon kommen, gerade wollten sie rübergehen. Der mit der Baskenmütze sagt: „Na, ist der Frank nicht ein wirklich feiner Kerl? Hat er euch ein bißchen was erzählt?“ Wir berichten, was er erzählt hat, und rufen damit allgemeine Bestürzung hervor. Man kann es nicht glauben. „Das kann doch nicht sein!“ ruft er. „Ich bin seit drei Jahren mit diesem Mann befreundet, wir sehen uns fast täglich, und nie hat er auch nur eine einzige Andeutung gemacht. Wie kann denn sowas zugehen, daß der plötzlich ein Fascho ist?“ Es entsteht eine wirre Diskussion, die nicht wiederzugeben ist. Darüber, inwieweit Frank tatsächlich schon als „Fascho“ bezeichnet werden kann, ob man noch mit ihm wird reden können über alles oder ob man ihn zukünftig meidet, ob diese Leute im Alter von Frank, die auf den Montagsdemos „Deutschland einig Vaterland“ brüllen, auch in diese Richtung wollen usf. Wir versuchen zu beschwichtigen, jedenfalls was Frank betrifft, von dem wir glauben, daß er vorläufig erst einmal das nachredet, was ihm die West-Verwandten vorgesprochen haben. Aber erfolglos. Alle sind versört und mutlos.

Bedrückt brechen sie später auf, um sich den Film von Roland Steiner anzusehen, der heute Premiere hat, Unsere Kinder. Es ist ein Dokumentarfilm über Skinheads und Neonazis in der DDR.

Am nächsten Morgen geht die Diskussion weiter, der Film hat die Stimmung noch mehr gedrückt. Man ist sich einig, moralisch lasse sich das Problem nicht angehen, nur ökonomisch könne man argumentieren, aber, so wird eingewendet, gerade das sei antifaschistische Trdadition und habe zu nichts geführt.

Als wir abreisen, am späten Vormittag, wird immer noch diskutiert. Man fürchtet sich vor der Begegnung mit Frank.

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