Verspätete Wut

Zum Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale  ■ K O M M E N T A R E

Vandalismus“ beklagte die Opposition, als sie das Zerstörungswerk in der Berliner Stasi-Zentrale in Augenschein nahm. Die Oppositionellen fegten die Scherben zusammen und ihr Renommee als einzig wirksamer Ordnungsfaktor ist gewachsen. Die wütenden Massen werden von einer großen, ja gesamtdeutschen Koalition der Vernunftsprediger, der Stabilitätspathetiker, der Beschwörer der friedlichen Revolution begleitet. Machte die Gewalt vor der Normannenstraße, eine ausgesprochene „Gewalt gegen Sachen“ die DDR instabil? Kaum. Nicht die Wut der Leute ist das Problem, sondern daß sie auf ganz besondere Weise sinnlos ist, daß sie zu spät kam, daß sie ins Leere stieß. Nur noch die Hinterlassenschaft der Stasi wurde beschädigt. Die Besetzer in Berlin und anderswo sahen sich immer um das Erlebnis der wirklichen, sinnlichen Besetzung des Winterpalais betrogen.

Was die Situation in der DDR beunruhigend macht, ist die Tatsache, daß der Druck der Massen immer weniger ein Ziel findet, daß die Macht in immer schnelleren Fluchtbewegungen vorauseilt. Für die Regierung Modrow ist die Straße Indiz dafür, welche Machtüberleitungsmanöver machbar sind oder nicht. Für die Opposition sind die Massen der abrufbare Druck, um die Regierung unter Druck zu setzen. Sie ist längst Teil einer politischen Sphäre, in der sie mit der Übergangsregierung um Wahlkampfvorteile kämpft. Ergebnis: Politik und Massenbewegung trennen sich mit einer Dynamik, die unmittelbar auf die Volksferne bundesdeutscher Parteien zueilt. Ein Prozeß, der in unverschämter Deutlichkeit von der DDR-SPD auch gewollt wird. Nur noch das Neue Forum hält, immer schwächer allerdings, den Gedanken hoch, daß nach vierzig Jahren Entmündigung eine Politik entstehen muß, die so ist, daß sie alle machen können.

Welche Rolle spielen die Massen, das Subjekt der friedlichen Revolution, die so undeutsch schnell begann? Sollen sie immer sinnloser „Wir-sind-das-Volk“ schreien, immer stupider rufen: „Stasi in die Volkswirtschaft“? Sollen sie bei der Empörung über tiefgefrorene Steaks und Spargelspitzen in Stasi-Kellern sich erregen? Zerschlagung der Kommandowirtschaft, soziale Marktwirtschaft, demokratische Wahlen, Kovertivilität der Ost-Mark etc., das alles sind unstrittige Voraussetzungen einer Modernisierung und Demokratisierung der DDR. Aber es sind auch Schlagworte, in verschiedenen Variationen von den Wahlkampfparteien ausgebucht. Was bleibt, ist immerhin die Frage, welche Gesellschaft will denn das „Volk“, welche soll es denn wollen?

Selbst wenn es schnell auf eine deutsche Vereinigung zugehen sollte, ist diese Frage nicht überholt, sondern um so dringender. Aber hier schweigen die Parteien, geschweige denn, daß sie die große unausgesprochene Ratlosigkeit in der DDR zum Thema machen. Bleibt die Stasi, an der man sich wenigstens noch rächen kann - und die Wiedervereinigung, weil etwas anderes nicht in die Debatte gebracht wird.

Klaus Hartung