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Ob vorwärts oder zurück...

■ Der Autor, zuständig für Filmbücher im Ostberliner Henschel-Velag, sah sich letzte Woche in Dresden die Defa-Jahresvorschau an

Jürgen Bretschneider

Noch merkt man ihm die akute Atemnot nicht an, dem Defa -Film, und nach der erklärten Absicht des Studios und dessen Leitung soll er auch künftig vor chronischem Asthma bewahrt werden. Gleichwohl drohen den Babelsbergern härtere Zeiten, denn wollen sie die nationale Produktion bei passabler Gesundheit halten, ist es mit der neuen Freiheit von ideologischer Gängelei und künstlerischer Bevormundung allein nicht getan - ohne den schnöden Mammon wird sich nicht mal ein Orwo-Schnipsel verfärben. Aus den arg geleerten Staatsschatullen dürften die Subventionen eher tröpfeln denn fließen, doch sind sie dringend vonnöten, um die Substanz des Unternehmens an Immobilien und Technik gründlich zu sanieren und ebenso rasch zu modernisieren. Finanziell bar vieler Sorgen zu sein, der oftmals und gerade von Regisseuren hochgeschätzte Vorzug des einheitlich -staatlichen Filmwesens, ist in gewohnter Form nicht mehr opportun, und aus der veränderten Lage erwächst die zwingende Notwendigkeit, sich auf neuen Wegen zu versuchen. Ausgebaut wird die bislang völlig unzureichende Kooperation mit dem Adlershofer Fernsehen, und auch international wird man sich mehr als Partner anbieten.

Von allen längerfristigen Unwägbarkeiten abgesehen, ist jedoch zunächst einmal - wie bei der jährlichen Defa -Vorschau letzte Woche in Dresden zu hören war - die Produktion für 1990 rundum gesichert. Gute Aussichten also für das Publikum, sofern es überhaupt noch geneigt sein wird, die nach wie vor spottbilligen Eintrittskarten für die heimischen Filme zu erwerben, und nicht ausschließlich die übermächtigen West-Offerten, vor allem aus Hollywood, zu honorieren.

Scheinbar paradox, wenn in einer Situation allgemeiner Stagnation oder gar des Rückgangs die Defa 1990 quantitativ mit einem Angebot in den Kinos präsent sein wird wie schon lange nicht mehr. Die gerade erst fertiggestellten Filme werden sich einer nicht geringen internen Konkurrenz zu stellen haben - jenen „Kellerleichen“ nämlich, die dem berüchtigten 11.ZK-Plenum vom Dezember 1965 zum Opfer fielen und wegen ihres zügellosen, volksfeindlichen Spektizismus umgehend aus dem Verkehr gezogen wurden.

Was haben die „Gegenwartsstücke“ von heute dem nun entgegenzusetzen? Sind sie, allesamt vor der Wende entstanden, auch danach noch zeitgemäß und von Belang? Bei der traditionellen Dresdner Vorab-Schau wurden sieben Filme (circa die Hälfte der gesamten Jahresproduktion) vorgestellt. Kein Meisterwerk darunter, nur ein Flop, aber etliches nicht uninteressant auch für Leute, denen die DDR bisher nur ferner Nachbar war. (Freilich werden sie die Bereitschaft aufbringen müssen, ihre Optik etwas zu verstellen.) Da alle Filme bereits vor dem Oktober gedreht wurden, erstaunte mitunter der erst jetzt so selbstverständliche unverblümt offene Ton, veranlaßte sogar zu (eindeutig verneinten) Fragen, ob nicht manches nicht noch nachträglich verändert worden sei.

Enttäuschend, weil kraftlos und langweilig, Rainer Ackermanns Über die Grenzen. Der Titel keine Anspielung auf die sommerliche Massen-Absetzbewegung, sondern verweist auf das längste und vormals überaus populäre Amateur -Radrennen mit den Eckpunkten Warschau, Berlin, Prag. Ackermann quält sich ebenso wie die „Ritter der Landstraße“ über die 2.000 Kilometer; die dürftige Story läppert sich so dahin, die Figuren sind blaß, die Dialoge höchst banal, und vom Fluidum und der Dramatik jener Tour nicht der geringste Hauch.

In Bernhard Stephans Rückkehr aus der Wüste versucht ein junger Mann, mit sich und seiner hinlänglichen Umwelt ins Reine zu kommen. Einst war er mit einer FDJ-Brigade ins ferne Algerien gezogen, um der heimischen Enge zu entfliehen, doch im heißen Wüstenstaub findet er alles wie daheim: einen kleinkarierten Chef, bescheuerte Reden, die obligate Zeitungsschau mit dem 'ND‘, die Auswertung des Plenums und die öde Gewerkschaftsversammlung - selbst während des Basarbummels bleibt man vorschriftsmäßig unter sich. Als er dann mit der Frau eines Kollegen anbandelt, gerät die moralische Sauberkeit und damit der gute DDR-Ruf in Gefahr. Ein Kerl, der partout nicht vernünftig sein will nach dem Maße seiner Oberen, wird abgeschoben nach Hause.

Rolf Losanskys Abschiedsdisco hat jahrelang auf Eis gelegen, denn, so der Regisseur, „man wollte ja kein Licht auf diesem Gebiet“. Die literarische Vorlage von Joachim Nowotny erschien bereits 1979, seitdem rannte Losansky jahrelang „gegen verschlossene Türen“.

Es geht um Wussina, ein Lausitzer Dörfchen, unter dem die Kohle liegt, und das zum Wohle der Republik weggebaggert werden muß. Die Häuser sind schon leergeräumt, die Kirche ist geplündert, nur die Glocke steht noch im Garten. Die früheren Bewohner sind in die Stadt gezogen, in helle Neubaublocks sicherlich, nur zwei alte Leute wollen nicht weichen. Einer ist Hennings Großvater, den der 15jährige Bursche besuchen will, um so dem elterlichen Sonntagsausflug zu entrinnen. Auf der kurzen Strecke begegnet ihm manches Unverständliche, auch ein skurriler Kauz, der den weisen Satz von sich gibt: „Ob vorwärts oder zurück, das weiß heute schon längst keiner mehr.“ Da Hennings Vater für die ordnungsgemäße Räumung des Geländes verantwortlich ist, kommt es zwangsläufig zum (arg didaktischen) Generationsstreit über die verschiedenen Lebensvorstellungen, und Henning spricht nicht nur für sich, wenn er sagt: „Immer ist alles schon passiert und nie was zu machen!“

Zu einem guten Teil im Lausitzer Land, wo die Nebel kräftig wabern, handelt auch Jürgen Brauers Sehnsucht (nach Jurij Kochs Novelle Der Kirschbaum). Eine reichlich metaphorisch aufgeladene Geschichte um die sonderbare Liebe zwischen der bodenständigen Bäuerin Ena und dem die Landschaft umkrempelnden Ingenieur Sieghart. Wie immer bei Brauer hat er selbst kunstvoll fotografiert, und für Fans von Ulrich Mühe und Ulrike Krumbiegel ist das ansonsten etwas schwerlastige Werk ein Muß.

Film im Film bei Dietmar Hochmuths Motivsuche: Regisseur Rüdiger, der bislang nur zum Zuge kam, wenn es galt, den 400.Geburtstag einer Geistesgröße zu bedenken, ist heiß auf einen Stoff aus dem wirklichen Leben. Nun hat er ihn entdeckt, in Gestalt des minderjährigen Pärchens Manuela und Klaus, in getrübter Nachwuchserwartung und gestörtem Sozialmilieu genau das Richtige für einen brisanten Dokufilm. Rüdiger engagiert sich nach Kräften für sein Projekt und das grüne Paar. Dabei geht die eigene Ehe mitsamt dem Film in den Brüche, und Rüdiger muß zerknirscht erkennen: Was ich will, kann ich nicht, und was ich kann, will ich nicht. Hochmuth stellte ein weiteres Mal seine komödiantische Begabung unter Beweis; er hat ein bemerkenswertes Gespür für genaues Timing, und fast bis zum Schluß behält er ausreichend Puste.

In Helmut Dziubas Verbotene Liebe ist in einem Klassenzimmer die Losung angebracht: Die sozialistische Schule - Erziehung zum Denken und zur Tat. Erst wird Georg vom Direktor ausgezeichnet und als Vordbild gepriesen, weil er das etliche Jahre jüngere Nachbarsmädchen Barbara vor dem Ertrinken rettete. Später steht er vor Gericht und wird angeklagt, eben diese (frühreife) Barbara sexuell mißbraucht zu haben. Dziuba spekuliert indes nicht mit dem Extrem, ihm geht es vielmehr um das „gewöhnliche“ Verhalten der Leute vor und nach dem „Fall“. Er fördert Heuchelei und Selbstbetrug zutage, profane Motive wie Mißgunst und Neid. Auch über das Spektakuläre hinaus ein gelungener Film.

Gleiches läßt sich von Karl-Heinz Lotz‘ Rückwärtslaufen kann ich auch kaum behaupten. Ein verdrängtes und daher wichtiges Thema, unser gestörtes Verhältnis zu Behinderten, aber der Spielfim vermag nicht zu packen, zu viele Klischees stehen im Wege. Kino-Premiere am nächsten Donnerstag.

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