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Geschweige denn eine Leiche

■ Bertrand Taverniers „Das Leben und nichts anderes“

Die Landschaft ist leer. Das Meer wirft ein paar Schaumkronen, weit und hell liegt der Horizont da. Der Strand - ein zartes Aquarell in Cinemascope. Zwei Gestalten werden erkennbar, zwei Reiter, weit weg noch. Eine Frauenstimme sagt: „Sie halten sich nicht gerade.“ Der erste Satz. Ein seltsamer Satz. Der Mann schwankt, jetzt kann man es sehen. Er trägt einen Soldatenmantel. Er fällt vom Pferd, ihm fehlt ein Bein. Die Frau, eine Nonne, hilft ihm wieder hoch. Oben auf der Düne winkt und ruft ein anderer Mann, er will wissen, wo das Hospital ist. Der Wind verweht seine Stimme. Keine Großaufnahme, die Leinwand ist immer noch fast weiß, fast leer.

Frankreich im Winter 1920. Kommandant Dellaplane sucht Tote. Vermißte, Verschollene, Nicht-Identifizierte. 350.000 Franzosen sind im Ersten Weltkrieg verlorengegangen, genau: 349.771. 349.771 Gesichter ohne Namen und Namen ohne Gesichter. Der Kommandant soll sie alle finden, akribisch führt er Buch und legt Karteien an. Er macht Fotos von den Krüppeln, von den Verrücktgewordenen und denen ohne Gedächtnis, er sammelt Körpergrößen, Augenfarben und Kopfformen. Alles, was den Menschen vom Menschen unterscheidet. Er führt Krieg gegen den Krieg, der vorbei ist, mit Suchtrupps und Generalstab und manchmal unter Lebensgefahr. Immer noch gehen auf den Schlachtfeldern Minen hoch. Sein Kommandozentrum ist ein altes Theater, die Büros in Holzverschlägen - eine provisorische Bühne für ein noch unbekanntes Stück.

Irene sucht ihren Gatten. Dellaplane gibt ihr ein Album mit Fotos. „Es ist furchtbar“, sagt sie beim Blättern. Er widerspricht, behutsam: „Die ersten zwei, drei Seiten ja, aber danach ist es wie ein Herbarium.“ Die Fotos im Album sind nicht zu sehen, nur Irene, wie sie sie betrachtet.

Ein Bauer pflügt sein Feld, der Boden ist gefroren, der Ackergaul kommt kaum vorwärts. Der Bauer findet eine Granate, mit sanfter Stimme spricht er auf das Pferd ein. Wenn es jetzt nur einen Schritt weitergeht, fliegen sie beide in die Luft. Szenenwechsel in die Dorfkneipe, wenig später das Geräusch der Detonation. Ein paar Gäste horchen auf. Eine Leiche sehen wir nicht. Einer nennt die Zahl: 1,5 Millionen Tote. Kein einziger Toter kommt ins Bild. Dieser Film interessiert sich nur für die Lebenden.

Kommandant Dellaplane ist Soldat, er efüllt seine Pflicht. Befehligt die Suchtrupps, schäkert mit den Mädchen, singt Gassenhauer, brüllt ins Telefon. Ein Mann unter Männern. Sieht aus wie ein einsamer Held, der sich nichts und niemandem unterwirft. Über die verzweifelt-komische Suche nach dem garantiert französischen und garantiert „unbekannten Soldaten“ für den Arc de Triomphe zum Beispiel kann er sich nur lustig machen. Verwittertes, bärtiges Gesicht, kantige Nase: Philippe Noiret, älter als sonst.

Irene ist das Gegenteil. Eine zerbrechliche kleine Frau aus reichem Hause, mit Limousine und Chauffeur auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann. Als der Chauffeur in die Dorfkneipe essen geht, bleibt sie im Wagen sitzen, alles ist so schmutzig. Man sieht sie durchs Wagenfenster, das Gesicht hinter einem weißen glitzernden Schleier, als sei es aus kostbarem Porzellan. Bitte nicht berühren. Irene ist Sabine Azema, noch fragiler als sonst.

Irene trifft Dellaplane. Ein Machtkampf beginnt. Er gibt ihr, der Privilegierten, mit aller Härte zu verstehen, daß ihr Fall nicht den anderen 349.770 vorgezogen wird. Sie insistiert. Energisch verfolgt sie ihr Ziel, und als der Chauffeur samt Limousine nach Hause will, auch allein und zu Fuß. Mit kleinen, entschiedenen Gesten dirigiert sie Soldaten und Beamte, der Männerbund ficht sie nicht an. „Eine Antilope“, beschreibt Dellaplane Irene, „einsam, königlich. Alle Antilopen sind schön. Weil sie Angst haben.“ Aber das ist falsch. Irene hat keine Angst. Nur auf den ersten Blick ist sie trauernde Witwe: „Ich meine das ernst, sehr ernst: Ich bin nicht traurig.“ Der schönste Satz im Film, dahingesprochen zwischen Offizierston und Kneipendunst, Männerzoten und Bürokratenlatein.

Die suchenden Angehörigen sind in einer herrenlosen Fabrik untergebracht. Gigantische Zahnräder, noch stehen sie still. Dazwischen die Betten, notdürftige Kammern aus Holzgestellen, weiße Tücher als Vorhänge: eine Kulisse, provisorischer Schauplatz wie das Theater. Am Abend gibt es Sekt und Chansons, Irene hat Dellaplanes Einladung angenommen. Ein Akkordeonspieler, eine stämmige rothaarige Sängerin. Sie singt falsch und zu laut, aber was soll's. Die Gäste singen mit, ebenfalls laut und falsch, die Männer stehen auf, rücken vor Richtung Bühne, auch Dellaplane. Als er zum Tisch zurückkommt, ist Irene verschwunden. Er läuft ihr nach, will sie beschützen. Aber sie braucht keinen Schutz. Bloß daß sie mit dieser Horde nichts zu schaffen hat. „Es ist ein Verein“, sagt sie, „der Verein siegreicher Krieger.“

Es kommt zur Szene. Sie fragt, ob er sie will. Kein Wort mehr. Er ist verwirrt, wendet ein, gibt zu bedenken. „Es geht nicht um die Eröffnung eines Geschäfts“, stellt sie klar. Dellaplane ist zur Antwort nicht in der Lage. Der Kampf ist vorbei.

Aber Das Leben und nichts anderes ist keine Liebesgeschichte. Längst nicht alles dreht sich um das eine Paar. Da gibt es Alice, die Dorfschullehrerin, die ihren Verlobten sucht. Die Freundschaft zwischen Alice und Irene. Alice und die jungen Soldaten vom Suchtrupp. Da gibt es den Bildhauer, der Hochkonjunktur hat: 35.000 Gemeinden brauchen Kriegerdenkmale, die Auftragslage ist „besser als in der Renaissance“. Da gibt es den verzweifelten General, der mit einer Gruppe von Vietnamesen den „unbekannten Soldaten“ ausbuddeln muß. Und die Vietnamesen weigern sich, aus religiösen Gründen, einen Sarg anzufassen. Geschweige denn eine Leiche.

Feine Ironie, selten platte Komik. Dorfszenen und Landschaften, zwei wechseln Blicke, einer schwingt Reden in Taverniers Film hat alles seinen Ort und seine Aura. Die Kamera hält sich zurück, nicht aus Angst vor der Grobheit der Nahaufnahme, sondern weil auch am Rand etwas geschieht. Tavernier zieht nicht eines dem anderen vor, genau wie Dellaplane bei seinen Vermißten. Das Leben und nichts anderes - 349.771 Winzigkeiten. Jede kommt zu ihrem Recht. Wie die unzähligen feinen Pinselstriche, die man erkennen kann und doch nicht sieht beim Betrachten eines Gemäldes. Es braucht keine Großaufnahmen, in Taverniers Totale ist jedes Gesicht, das Spiel der Blicke genauer zu sehen.

Der Film entwickelt sich, wie ein Foto im Chemiebad, Schemen werden Gestalt, die Farben werden unmerklich kräftiger, anfangs ist Winter, am Ende Herbst. So erzählt Tavernier, was nach dem Krieg kommt und vor der Liebe. Nicht Ende und Anfang, sondern wie etwas zu Ende geht und wie etwas beginnt. Er zeigt keine Leiche und keinen Kuß.

Christiane Peitz

Bertrand Tavernier: Das Leben und nichts anderes, mit Philippe Noiret und Sabine Azema, Frankreich 1989, Cinemascope 123 Min.

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