: Armenier wurden in Moscheen versteckt
■ Die aserbaidschanische Volksfront umfaßt unterschiedliche Gruppen - demokratische wie nationalistische
Gassan Gussejnov, der Autor des folgenden Artikels über die aserbaidschanische Volksfront, hat letztes Jahr die Gesellschaft „Kosmopolis“ in Moskau gegründet, die Auswege aus ethnischen Konflikten erarbeiten will. Er selbst ist aserbaidschanisch-jüdischer Abstammung.
Die aserbaidschanische Volksfront zur Unterstützung der Perestroika (NFA Narodnyj Front Aserbejdschana) wurde im Winter 1988/89 gegründet - also wesentlich später als im Baltikum. Zu ihren selbstgestellten Anfangsaufgaben gehörte angesichts der völligen Inkompetenz des örtlichen Partei und Staatsapparates die Konsolidierung der demokratischen Kräfte. Andererseits war die Gründung der NFA eine Antwort auf die Karabach-Bewegung in Armenien. Die eindeutig negative Reaktion der Aserbaidschaner auf die - wie sie es sahen - territorialen Ansprüche Armeniens begünstigte die sehr schnelle Entwicklung einer rein nationalistischen Bewegung im Rahmen der NFA.
Eine breite Unterstützung erfuhr diese Strömung vor dem Hintergrund des Zustroms von 200.000 armenischen Flüchtlingen in Baku, Gansche und anderen Städten. Daß diese Menschen in Aserbaidschan blieben, während sich die armenischen Flüchtlinge aus Aserbaidschan und nach dem Erdbeben über die ganze russische Republik verteilten, trug dazu bei, im Zentrum antiaserbaidschanische Stimmungen zu nähren.
Als Aktivisten der Volksfront in Aserbaidschan traten anfangs Vertreter der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Lehrer und Ingenieure auf, also etwa dieselben gesellschaftlichen Schichten, die die entsprechenden Organisationen im Baltikum tragen. Doch der nationalistische Flügel stützt sich heute auf die weit breitere Basis der Zehntausenden von Arbeitslosen (laut 'Prawda‘ bis zu 42 Prozent der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung). Der große Teil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist stets auf der Suche nach einem „Feind“, der für die eigene Misere verantwortlich gemacht werden kann.
Die Regierungen Wesirows und seines Vorgängers Barigows waren unfähig, die Flüchtlingswelle zu bewältigen, und unwillig, die Volksfront anzuerkennen. Sie waren bis über beide Ohren in Korruption verwickelt und ignorierten die Aufgabe, in der Karabach-Frage einen von Moskau unabhängigen Standpunkt zu entwickeln. Dies machte es für die demokratischen Kräfte innerhalb der Bewegung unmöglich, die antiarmenische Hysterie in Aserbaidschan zu bremsen. Zudem wurde dieser nationale Haß von den Masseninformationsmitteln sowohl aus Moskau als auch in Baku künstlich genährt.
Das erste offizielle Treffen eines Vertreters der NFA, E.Mahmedow, mit Vertretern der armenischen Gesellschaft fand im März 1989 in Moskau in der Redaktion der Zeitschrift 'Das 20.Jahrhundert und die Welt‘ statt. Das Kommunique dieses Treffens wurde allerdings von der zentralen Presse damals nicht abgedruckt, die nach dem Blutbad an den Armeniern von Sumgait eindeutig antiaserbaidschanisch gestimmt war.
Die Furcht vor unkontrollierten Gewalttaten der Massen veranlaßte viele Aserbaidschaner, darunter auch einen großen Teil des Staats- und Parteiapparates, sich an die nationalistischen Kräfte anzulehnen. Gerade deshalb eskalierte aber die Gewalt in Aserbaidschan immer schneller, angefangen von der Blockade Armeniens - die zunächst eine Antwort auf die Blockade Nachitschewans durch Armenier gewesen war - bis hin zu den Pogromen in Baku in diesem Januar.
Die grobe nationalistische Hysterie wurde von Vertretern der örtlichen Elite angefacht. Als die aserbaidschanische Regierung schließlich gezwungen war, die Volksfront anzuerkennen, war diese bereits in Fraktionen gespalten. Sie reicht vom liberaldemokratischen Flügel (Lejla Junussova, N.Nadscharow und F.Ali-Zahde) bis zur äußerst chauvinistischen Organisation „Zangezur“, die nicht nur die Armenier aus Aserbaidschan vertreiben will, sondern auch Russen und Juden, ja sogar alle nichtnationalistischen Aserbaidschaner.
Antirussische
Ressentiments
In den letzten Tagen vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Baku wurden im Namen der aserbaidschanischen Volksfront äußerst widersprüchliche Erklärungen verteilt, der gemeinsame Nenner allerdings in der Forderung an Armenien bestand darin, von den territorialen Ansprüchen Abstand zu nehmen. Das Wichtigste waren allerdings die Forderungen nach Souveränität Aserbaidschans, nach demokratischen Wahlen mit dem Ziel, die gegenwärtige Regierung abzulösen und eine neue Seite in der Geschichte des Volkes aufzuschlagen, indem man sich auf die eine oder andere Weise mit den Aserbaidschanern im Iran wiedervereinigt.
Deshalb sind führende NFA-Mitglieder der Meinung, daß die Pogrome in Baku provoziert waren, um eine Begründung für den Einmarsch der Sowjetarmee zu liefern. Die Art, wie diese Ereignisse im zentralen Fernsehen und in der Presse beleuchtet werden, bestätigt diese These eher. Bemerkenswert ist auch, daß die Polizei während der Pogrome unbewaffnet war und nicht eingriff und auch das örtliche Militär nur strategische Schlüsselpositionen, nicht aber die Menschen verteidigte.
Die demokratischen Teile der NFA hatten gerade unter Aufbietung all ihrer Kraft versucht, dem Massenabschlachten an den Armeniern in Baku selbst ein Ende zu machen. Ausreichend dokumentiert ist zum Beispiel, wie die friedliebendste Fraktion, der tiefreligiöse „Bund freier Moslems“, unter der Führung A.Karabalajs in den letzten Tagen organisiert Armenier in Moscheen versteckte und aus Baku herausgeschleuste. Gerade deshalb ist die sowjetische Armee-Invasion vor allem ein Schlag gegen die demokratischen und nicht nur gegen die nationalistischen Strömungen in Aserbaidschan. Zu den grundlegenden antiarmenischen und antikommunistischen Ressentiments in der Gesellschaft kommen nun auch noch antirussische hinzu.
Übersetzung: Barbara Kerneck
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