Trauerspiel in drei Akten-betr.: "AL-Perspektive: weder regieren noch opponieren", taz vom 22.1.90

Betr.: „AL-Perspektive: Weder regieren noch opponieren“, taz vom 22.1.90

Nun - fast hat schon niemand mehr daran geglaubt, aber anscheinend hat bei der AL doch einer was gemerkt und sich endlich zum KO-Fiasko der Partei geäußert. Aber was bekommen wir zu lesen? Ein Trauerspiel in drei Akten:

1. Akt - Kurze Abrechnung mit der Koalition vor der Maueröffnung. Von einem ohnehin nur „Minimalprogramm“ aufgrund der fehlenden gesellschaftlichen Mehrheit ist die Rede, was im März noch als Aufbruch zu neuen Zeiten gefeiert wurde. Der „alltägliche Kleinkram“ und natürlich eine „undurchschaubare Bürokratie“ haben die AL lahmgelegt, sie ist ob ihrer „politischen Kultur“ den „Anforderungen der Regierungsbeteiligung“ nicht gewachsen... Oder hat sie sich einfach übers Ohr hauen lassen? Weil die Basis auch nicht wie „erhofft“ mitmacht, sondern radikale (sic!) MVV -Beschlüsse faßt, statt einem diffusen „gesellschaftlich hegemoniefähigen Reformblock“ auf den Leim zu gehen, sah es wohl schon im Sommer schlecht aus.

2. Akt - Die Maueröffnung. Gerade noch zur rechten Zeit. Jetzt sind es nämlich die „objektiven Rahmenbedingungen“, die die AL „entscheidungsunfähig“ machen. Ihre Entscheidungen jedoch hat die AL schon zuvor genau jenen „sozialdemokratischen Ultimaten“ gemäß gefällt, denen sie Willy Brüggen nun nicht mehr unterwerfen mag. Ein frommer Wunsch nicht wahr? Denn wo ist der Handlungsspielraum? Wieso sollte ein König Walter nicht auf die AL „verzichten wollen“?

Den einzig treffenden Teil liefert Willy Brüggen denn auch mit der Einschätzung der SPD angesichts der deutsch -deutschen Raserei: An der Lossprechung von aller Vergangenheit beteiligt sich ohne Wenn und Aber auch die SPD.

Wie allerdings die AL die auf dem „Tiger“ (Planierraupe wär‘ wohl passender) dahinreitende SPD noch unter Zugzwang setzen will, bleibt das Geheimnis des 3. Aktes Zukunftsmusik. Schon hat sie die aktuellen, „kontroversen“ Punkte verloren, und sei es auch nur einen „relativ unwichtig scheinenden“ wie die Stromtrasse... Warum sollte sich das ändern?

Doch der Dramaturg hat auch darauf eine Antwort: Man klammere einfach die essentiellen Dinge aus und suche sich die, über die man bisher noch nicht gestritten hat. Neues Spiel, neues Glück. Die Zukunft ist vielfältig und unübersichtlich. Ich aber bleibe hartnäckig.

Denn, wo ist einer der entscheidendsten Punkte grün -alternativer Vision in Berlin - die „multikulturelle Gesellschaft“? Nicht ein Wort über die rundum gescheiterte Flüchtlingspolitik der AL, keines über die sich dahinschleppende ImmigrantInnenpolitik des Senats. Keines über Tausende von Menschen (ja, ja, richtig gelesen!), die ebenfalls am „gesellschaftlichen Reformprojekt“ mitdenken wollen. Doch halt! Es war ja nur die Rede von „konkreten Lebensumständen, in denen die Deutschen leben wollen“.

Ich weiß, wer die AL an ihr „Geschwafel“ aus früheren Tagen erinnert, gerät leicht in den Verdacht, unverbesserlich „radikal“ zu sein - ich tu's trotzdem. Wo ist sie, die Solidarität mit denen, die allen Grund haben, sich vor dem braun-schwarzen (deutschen!) Gedröhn zu fürchten? Es wird dringend Zeit, daß sich die AL nicht nur „zunächst“ zur Zweistaatlichkeit bekennt, sondern auch langfristig Position bezieht für eine offene Welt mit offenen Grenzen, ohne Großdeutschland. Für alle. Eine Menschenbild hängt daran...

Wenn das kleine Liedchen von Willy Brüggen alles war, was der AL zum deutsch-deutschen Brei einfällt, halt‘ ich's mit Onkel Herbert: geistiger Eintopf.

Carola Reichel, Berlin