Die Geheimnisse des Präsidenten

■ Politik durch Geheimbefehl: Reagan erteilte insgesamt 300 Geheimbescheide, und Bush folgt seinem Beispiel

Eve Pell

Wie schaffen die Vereinigten Staaten es, trotz 200jähriger Geschichte bürgerlicher Freiheit und Souveränität des Volkes, andere Regierungen, die sie nicht schätzen, zu sabotieren? Wie schaffen sie es, die Stimmen ihrer Regierungsangestellten zu ersticken und Invasionen fremder Länder zu lancieren, ohne ihre Bürger zu informieren? Wie schaffen es US-Politiker, die jeden Ausländer über die Überlegenheit unserer Form von Demokratie zu belehren pflegen, klandestine Operationen auszuführen, die weder einer öffentlichen Diskussion noch dem verfassungsmäßigen Gesetzgebungs- und Kontrollprozeß standhalten würden?

Die Rechtfertigung zum Ausschluß der Bürger ist immer die „Nationale Sicherheit“: es geht ums Überleben, um Dinge, die zu kompliziert sind für den Normalbürger. Die Regierung argumentiert, in solch einem Fall sei eine öffentliche Diskussion nur zum Vorteil „der anderen Seite“, totalitäre Regime dagegen könne man durch demokratische Prozesse in ihrer Diktatur behindern.

Für die Ausführung solch unpopulärer und vom Legalitätsstandpunkt äußerst fragwürdiger Operationen wird meistens von einer wenig bekannten Einrichtung Gebrauch gemacht, einem hypergeheimen Dekret namens National Security Decision Directive (NSDD, etwa: Weisungsbescheid, die nationale Sicherheit betreffend). Durch einen NSDD wird dem Präsidenten großer Spielraum gewährt, in Fragen der Außenpolitik - oder wo immer er nationale Sicherheiten bedroht sieht - einseitig zu agieren.

Diese Geheimbescheide haben den Vereinigten Staaten einige der dramatischsten Verwicklungen der letzten 40 Jahre beschert: in Kuba, Vietnam, im Libanon und Grenada haben Männer und Frauen infolge solcher Weisungen gekämpft und sind dafür gestorben. Und dennoch haben die meisten US -Bürger keine Ahnung von diesem politischen Instrument, das so wirkungsvoll in ihr Leben eingreifen kann.

Innerhalb seiner achtjährigen Amtszeit hat Ronald Reagan etwa 300 NSDDs herausgegeben, und George Bush ist dabei, seinem Beispiel zu folgen. Nach Aussagen von Harold Relyea, Experte in Sachen Regierungswesen im Forschungsbereich der Kongreßbibliothek, kann „der Präsident uns mit einer dieser Weisungen in den Krieg stürzen“.

Durch einen NSDD wurden dem CIA 19 Millionen Dollar zugeschoben, mit denen die Contra bewaffnet und ausgebildet wurden, und es war ebenfalls ein NSDD, der eine amerikanische Autobombe in Beirut explodieren ließ, durch die 80 Zivilisten getötet wurden - bei einem gescheiterten antiterroristischen Mordversuch. Durch einen NSDD wurde die Invasion in Grenada angeordnet. Und es war ein NSDD, der Millionen Angestellter und Vertragspartner der US-Regierung dazu zwang, Geheimhaltungsverpflichtungen zu unterschreiben. Einem Bericht der 'Washington Post‘ zufolge war es ebenfalls ein NSDD, der die Nasa zu einer engen Zeitplanung der Raumfährenflüge zwang und damit vermutlich zur Challenger -Katastrophe beitrug.

Die NSDD-Weisungen werden nur auf allerhöchster Ebene der Exekutive bekanntgemacht. Anders als Ausführungsweisungen des Präsidenten, die im „Federal Register“ veröffentlicht werden, oder Berichte der Geheimdienste an den Präsidenten, über die der Geheimdienstausschuß des Kongresses informiert wird, brauchen NSDDs keiner anderen Behörde oder Regierungsstelle bekanntgegeben zu werden. Das Ausmaß der Geheimhaltung ist absolut verblüffend: von den 300 Weisungsbefehlen Reagans sind nur 50 ganz oder teilweise durch den Nationalen Sicherheitsrat enthüllt worden, der ohne andere Gremien oder Kontrollen über die mögliche Veröffentlichung von NSDDs entscheidet.

Die gesetzliche Grundlage der NSDD-Weisungen ist vage. Das Gesetz zur nationalen Sicherheit von 1947, formuliert zu Beginn des Kalten Krieges, erlaubt dem Präsidenten implizit, Grundsatzpapiere zur nationalen Sicherheit auszugeben; das Recht, politische Direktiven zu formulieren, wird ohnehin traditionell dem Präsidenten als prinzipielle Machtbefugnis zugestanden. Im Laufe der Zeit sind aus allgemeinen Stellungnahmen zur Politik schließlich konkrete Weisungen geworden, die - nach Meinung eines kürzlich veröffentlichten Kongreßberichts - nationale Politik festlegen und den Gebrauch von Bundesmitteln autorisieren können.

Geheime Weisungsbefehle, die durch offizielle Verlautbarung oder durch die Presse bekanntgeworden sind, zeigen ihr breites Spektrum. Um nur einige zu nenen: Es gibt NDSSs zum Einsatz von Atomwaffen, zu Mittelamerika, Star Wars, Umgang mit Geheimberichten, Waffengeschäften, ziviler Verteidigung, Lebensmittelhilfen ins Ausland, Gipfeltreffen und zum Krieg zwischen Iran und Irak. In welchen Bereichen der größte Teil, die nach wie vor geheimen 200 Reagan-NSDDs, ergangen sind, ist jedoch weiterhin nicht bekannt; nicht einmal ihr Gegenstand darf bisher enthüllt werden.

Und um was könnte es in diesen 200 Geheimbefehlen gehen? Gibt es vielleicht einen Plan, wie man im Fall von Großdemonstrationen gegen die Regierung die Verfassung außer Kraft setzen kann? Werden vielleicht alte Militärstützpunkte als Konzentrationslager für politische Gegner und illegale Ausländer vorbereitet? In den letzten acht Jahren hat es immer wieder Artikel in der Presse gegeben, die die Existenz solcher Pläne in einem der immer noch geheimen NSDDs vermuten. Sind Gesetze und Ausführungsbestimmungen oder öffentlich bekanntgemachte Maßnahmen durch geheime Weisungen des Präsidenten unterhöhlt und sabotiert worden? Wer eigentlich bestimmt die Leute, die solche Befehle ausführen? Wieviel Prozent der Steuergelder gehen für ihre Bezahlung drauf? Der amerikanische Bürger weiß es schlichtweg nicht.

Früher hießen diese Anweisungen zur nationalen Sicherheit anders, ihre Macht jedoch war nicht weniger groß. Das „National Security Action Memorandum“ (NSAM) Nummer 31 von Präsident John F.Kennedy gestattete die Invasion in Kuba; Lyndon B.Johnsons NSAM 273 führte zur Ausweitung des Krieges in Südostasien durch die Erlaubnis, in Laos einzumarschieren. Trumans NSC-68, 1950 erlassen und 25 Jahre geheimgehalten, öffneten dem Gesetzesbruch im Namen der „Nationalen Sicherheit“ Tür und Tor. Dort hieß es: „Die Integrität unseres Systems wird nicht infrage gestellt durch Maßnahmen, seien sie offen oder geheim, gewaltsam oder gewaltlos, deren Aufgabe darin besteht, die Pläne des Kremls zu vereiteln.“

Empfohlen wurden „geheime Operationen im Bereich der ökonomischen, politischen und psychologischen Kriegsführung mit der Perspektive, Unruhe und Revolten in ausgewählten Satellitenstaaten auszulöschen“.

Unter Reagans Präsidentschaft wurden Geheimbefehle zur Basis versteckter Regierungsausübung. Nach Auskunft des Experten Relyea von der Kongreß-Bibliothek nahmen Reagans NSDDs auf verschiedene Weise Gestalt an. Einige wurden zunächst auf mittlerer Verwaltungsebene erteilt, durchliefen verschiedene Gremien des Nationalen Sicherheitsrats, von dem sie umformuliert wurden, und kamen dann im Oval Office wieder an als geheimer Beschluß der Präsidentenberater. Andere entstanden aus Ad-hoc-Diskussionen zwischen dem Präsidenten und seinen Beratern, bei denen sie spontan formuliert wurden.

„Die NSDDs zeigen eine sehr zweifelhafte Verschiebung des Ortes an, an dem eine Bundesentscheidung traditionell gefällt wird. Die Mitspieler kommen aus den einzelnen Staaten, dem Verteidigungs- und Justizbereich, und alle machen sie ihren politischen Schnitt dabei“, sagt Scott Armstrong vom National Security Archive in Washington. „Der Nationale Sicherheitsrat, die höchste Körperschaft für interministerielle Beschlußfassung, koordiniert die verschiedenen Bereiche; und da ihr Direktor ohne Kontrollinstanz fungiert, geht dieser Prozeß vollkommen am Kongreß vorbei. Artikel 1 und 2 der Verfassung sind außer Kraft gesetzt, denn hier macht die Exekutive Gesetze.“

Trotz dieser fragwürdigen Gesetzesgrundlage haben nur sehr wenige Bürgerorganisationen, die sich mit der Beobachtung der Regierung beschäftigen, jemals Fragen über den Gebrauch der NSDDs gestellt. Eine Ausnahme ist die Gruppe „People for the American Way“, deren 270.000 Mitglieder sich mit Nachrichtenfreiheit und Zensur in den USA befassen. Die Organisation veröffentlichte eine Untersuchung, in der es zusammenfassend heißt, daß geheime Weisungsbefehle „gesetzesflüchtige Politik“ unterstützen; der Gesetzesexperte der Gruppe empfahl einem Senatskomitee, daß NSDDs in jedem Fall dem Kongreß mitgeteilt werden sollten.

Nur wenige Abgeordnete des Kongresses haben offen gegen die NSDDs Stellung bezogen. Der texanische Abgeordnete Jack Brook, der sie „Geheimgesetze“ nannte, bat im März 1987 das Weiße Haus um eine Liste aller NSDDs seit 1981. Das Weiße Haus lehnte ab. Der frühere Congress-Speaker (etwa: Parlamentspräsident) Jim Wright, der sich ebenfalls für eine Liste stark gemacht hatte, argumentierte in seinem Antrag: „Der Kongreß kann sich in Fragen der nationalen Sicherheit nicht äußern, wenn diese hinter verschlossenen Türen von der Exekutive verhandelt werden.“ Auch ihm wurde der Einblick in die geheimen Weisungsbefehle versagt.

Der Abgeordnete Louis Stokes, früher Vorsitzender des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, äußerte, daß die NSDDs „manchmal die einzigen Dokumente über geheime politische Maßnahmen“ seien. Er fragt: „Ist die Geheimpolitik der Vereinigten Staaten tatsächlich die gleiche wie die, die man in bezug auf so empfindliche Bereiche wie Terrorismus (und) paramilitärische Geheimoperationen kennt?“ Der Kongreß, so sagte er, müsse das wissen. Der kalifornische Kongreßabgeordnete Anthony Beilenson erklärte, daß Mitglieder seines Ausschusses NSDDs vom Weißen Haus angefordert hätten und mit der Begründung abgespeist worden seien, daß die Direktiven „Dokumente des Präsidenten“ sind. Seiner Meinung nach verhindere die Geheimhaltung der NSDDs, daß der Kongreß einen realistischen Einblick in die nationale Sicherheitsfragen betreffende Politik habe.

Andere Kritiker wie beispielsweise Allan Adler von der ACLU (Washington) meinen, daß nicht so sehr die Existenz der Direktiven das Problem sei; gefährlich sei ihr Mißbrauch durch übereifrige Präsidenten oder den nationalen Sicherheitsrat. Das Argument des Weißen Hauses, die NSDDs stellten lediglich vertrauliche Anweisungen des Präsidenten an seine Mitarbeiter dar, sticht nicht. Denn wenn sich Ronald Reagan auch auf seine Ranch zurückgezogen hat, bindet sein NSDD 84 nach wie vor Millionen von Regierungsangestellten an ihre Geheimhaltungsschwüre (gegen den ausdrücklichen Wunsch des Kongresses). Die Geheimbefehle NSDD sind de facto zum gesetzgeberischen Vehikel des Staates in Fragen nationaler Sicherheit geworden.

Vielleicht wissen wir in 20 Jahren, was genau die geheime Erbschaft Ronald Reagans ist, die er in seinen 200 bis heute nicht freigegebenen NSDDs hinterlassen hat. Bis dahin allerdings weiß keiner, welche Zeitbomben sich womöglich dahinter befinden.

Am 2.Februar 1989 gab George Bush den Geheimgesetzen des Präsidenten einen neuen Namen. Sie heißen jetzt National Security Directives, oder NSDs. Bisher hat er mindestens einen herausgegeben, und zwar zum Thema „afghanische Freiheitskämpfer“. Sein Inhalt ist selbstverständlich geheim.

Eve Pell ist Journalistin am „Centre für Investigative Journalism“ in San Francisco. Dieser Text ist die gekürzte Version eines Artikels, der zuerst in 'The Nation‘ erschien. Gefördert wurde die Recherche durch den Fonds „For Constitutional Government“ und die Stiftung „Public Concern“.

(Zur Erinnerung: das Gesamt- also Bundesparlament der Vereinigten Staaten, der „Congress“, besteht aus zwei Kammern, dem „Senate“ und dem „House of Representatives“. Lediglich im wesentlich größeren „House of Representatives“ haben die Demokraten zur Zeit eine substantielle Mehrheit. Die „Regierungspartei, d.h. Partei des Präsidenten, ist die republikanische Partei, der Amtssitz des Präsidenten wird „Weißes Haus“ oder auch „Oval Office“ genannt. U.R.)