piwik no script img

Protokolle über eine alte Zeit

Auszüge der Anhörung von Joachim Herrmann, Sekretär für Agitation beim Politbüro der SED, aus dem 'Neuen Deutschland‘ vom 27. Januar  ■ D O K U M E N T A T I O N

Vorsitzender Abgeordneter Dr. Toeplitz: Für unser Protokoll... der Name ist klar: Joachim Herrmann. Geburtsdatum?

Joachim Herrmann: 29.Oktober 1928.

Toeplitz: Sie waren als Sekretär eingeordnet. Wer war Ihr Chef oder Kontrolleur, nur der Generalsekretär?

Es gab ein absolutes Gesetz der Anleitung der Massenmedien durch den Generalsekretär. Ich betone, daß ich damit nicht eine Spur von Verantwortung von meiner eigenen Handlungsweise und Person wegwischen will. Aber der Generalsekretär hatte - wie auch vorher Generalsekretäre einen großen Wert auf die Medien und ihre Anleitung gelegt und auf die unbedingte Einhaltung der Parteidisziplin und die Durchsetzung der Beschlüsse der Parteitage, der Zentralkomiteetagungen und vor allen Dingen der Tagungen des Politbüros sowie seiner eigenen Weisungen, die bis ins Detail erfolgten, insbesondere was das 'Neue Deutschland‘ betraf. Jedenfalls war der einzige, der mir außer den Kollektiven des Sekretariats und des Politbüros Weisungen erteilen konnte, der Generalsekretär, und er hat es auch getan.

Abgeordneter Prof. Dr. Klemm: Ist Ihnen damals jemals der Widerspruch zum Bewußtsein gekommen, der zwischen dem Artikel 1 und dem Artikel 27 (der Verfassung; d.Red.) bestanden hat? Mitglieder ihrer ehemaligen Partei haben das gemerkt.

Es gab die Erfolgspropaganda als ein Gesetz, daß, wenn man daran etwas ändere, der politische Gegner, nicht irgendwelche Kräfte in der DDR, ich meine den politischen Gegner, der damals wie heute die DDR nicht gedeihen lassen will... damit der davon nicht profitiert, wenn wir selbst Eingeständnisse unserer Unzulänglichkeiten, unserer Probleme machen.

Das war besonders im Bereich der Wirtschaftspolitik, von Statistiken, deren Unglaubwürdigkeit einem Redakteur und natürlich jedem Funktionär in der Abteilung Agitation bewußt war oder die er, wozu nicht viel gehörte, zumindest erahnte. Aber das war eine Frage, daß unter falsch verstandener Disziplin doch diese Dinge an die Medien gehen. Jawohl, es hat dagegen Widerspruch gegeben, von Vertretern der Medien, von der Abteilung Agitation, von mir usw. Aber das wurde dennoch durchgesetzt und ist so veröffentlicht worden und hat nicht dazu beigetragen, das Vertrauen der Menschen in die Medien und die Verwirklichung der von Ihnen genannten Verfassungsartikel zu realisieren.

Abgeordneter Lesser: Die tiefe Kluft zwischen der Informationspolitik und der Wirklichkeit hat unter den Bürgern des Landes zu sehr vielen Diskussionen geführt; nicht zuletzt auch innerhalb der SED selber, in den Parteiorganisationen, war sie eine Art Dauerbrenner. Ich weiß, daß darüber auch fleißig Berichte geschrieben worden sind. Sind die jemals zur Kenntnis genommen worden, warum ist darauf nicht reagiert worden?

Erstens entspricht das den Tatsachen. Zweitens - ich habe Übersichtsberichte über Leserbriefe gekannt, die ich oder einzelne Redaktionen bekommen haben. Da waren solche Dinge zu erkennen. Der Widerspruch zwischen dem, was wir gemacht haben, und dem, was sich im Leben abgespielt hat, war offensichtlich. Es gab keine Entschlußkraft, daraus die Schlußfolgerungen zu ziehen, weil sie nicht im Bereich der Medien allein zu ziehen gewesen wären.

Lesser: Heißt das, daß die vielfältigen Meinungsäußerungen aus den Reihen der SED selbst in der Führung der SED, sprich: im Politbüro, gar nicht zur Kenntnis genommen wurden oder nichts bewirkt haben?

Also ganz klipp und klar die Antwort: Es hat in der letzten Zeit verstärkt Berichte über die Abteilung Parteiorgane über solche Stimmungen gegeben, aber nicht in dem Ausmaß, wie sich das in der Partei abgespielt hat. Ich glaube, wenn jeder Beteiligte, der hier schon gesessen hat, selbst zur Kenntnis bekommen hätte und sie dann auch zum Tragen gebracht hätte, wäre ein Prozeß der Veränderung früher eingetreten oder zumindest eine verschärfte Auseinandersetzung in den Gremien, die dafür zuständig waren. Das ist die Wahrheit.

Nehmen wir mal diese monatlichen statistischen Berichte! Wir haben dafür gewirkt, daß man diese Berichte unterläßt. Dann hat es eine Zeitlang gewisse Pausen gegeben, und dann waren sie wieder da. Sie können jetzt sagen: Warum haben Sie dagegen nicht gekämpft? Dann sage ich: aus den Gründen, wie sie aus der damaligen Sicht in der Führung der SED herrschten, wo jede Verletzung eines Beschlusses des Politbüros und einer Weisung des Generalsekretärs als eine Begünstigung der schon genannten gegnerischen Kräfte angesehen wurde.

Abgeordnete Frau Kralowetz: Ich möchte als Beispiel die Sache mit dem 'Sputnik‘ anführen. Wie stehen Sie dazu?

Es gab in dieser betreffenden Ausgabe des 'Sputnik‘ einige Beiträge, über deren Richtigkeit ich auch heute noch ernsthaft diskutieren würde. Aber es gab eine Aufforderung, sogar von sowjetischen Genossen: Dann meldet euch zu Wort, und wir werden diese Sache veröffentlichen. - Dagegen gab es eine Einstellung: Eine öffentliche Diskussion mit der Sowjetunion würde nur negative Auswirkungen auf unsere Beziehungen zur Sowjetunion haben. Es gab den Vorschlag zu dieser Ausgabe des 'Sputnik‘, daß einige Autoren gesucht werden, die dieser Meinung sind und dazu im 'Sputnik‘ eine Veröffentlichung vornehmen. Dieser Vorschlag wurde gestrichen, und es erfolgte die Weisung des Generalsekretärs, den 'Sputnik‘ von der Liste des Postzeitungsvertriebs zu streichen und in 'adn‘ eine Meldung zu veröffentlichen.

Toeplitz: Und wer verantwortet die Lüge dieser Meldung, daß das Postministerium diese Zeitung gestrichen habe?

Das sind dann zwei: der, der sie diktiert hat, und der letzterer bin ich -, der sie an 'adn‘ weitergeleitet hat.

Toeplitz: Denn es war eine Lüge. Der Postminister hat es über den Rundfunk erfahren, daß die Zeitung abgesetzt wurde.

Abgeordneter Bormann: Ich möchte feststellen, daß eindeutig Journalisten der Presse wie auch Redakteure von Fernsehen und Rundfunk seit August 1989 von Ihnen massiv an ihrer Tätigkeit gehindert wurden bis hin zu Verboten.

Das akzeptiere ich voll und ganz. Es gab eine Konzeptions und Sprachlosigkeit, und die ist nicht auf irgendeinen Journalisten zurückzuführen, sondern nur auf diese Struktur des Apparats. Wir standen dieser Angelegenheit deshalb hilflos gegenüber, weil es dazu keine Konzeption gab. Aber es gab eine Anweisung, darüber nicht zu schreiben, weil die Frage stand: In welcher Weise? Und dazu hätte man die Politik ändern müssen.

Toeplitz: Ich möchte ein Beispiel anführen, das große Empörung ausgelöst hat. Nachdem die Massenflucht über Ungarn eingesetzt hatte, gab es in dem 'adn'-Kommentar die zynische Bemerkung: Wir trauern ihnen nicht nach, diesen Tausenden von jungen Menschen. Wer trägt die Verantwortung für diesen Zynismus?

Der Kommentar ist dem Generalsekretär vorgelegt worden ohne diesen Satz. Er ist reingeschrieben worden.

Klemm: Wir kommen zu Fragen zum Anteil an globalen Entscheidungen des Politbüros von Ihrer Seite. Die erste Frage: Wie konnte es in den letzten Jahren zu einer so falschen Einschätzung der Krisensituation in unserem Lande im Politbüro kommen? Wann wurde Ihrer Meinung nach die Krise in unserem Lande unübersehbar?

Ohne Zweifel war eine falsche Beurteilung der inneren Lage eine der Ursachen. Es wurde auf schöngefärbte Berichte gebaut statt auf die Wirklichkeit. Es wurde, was die Möglichkeiten, die ökonomischen Ziffern, die Probleme, die hinter den ökonomischen Ziffern stehen, in den Griff zu bekommen, angeht, auf günstigere Gegebenheiten als auf die vorhandenen verwiesen.

Die zweite Ursache ist, daß man doch mit Konzeptionen gearbeitet hat, die bereits auf dem XI. Parteitag andere Antworten hätten finden müssen, als sie gefunden haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen