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Ein Sowjet-General hat dazugelernt

Zehntausende tschechoslowakischer Bürger verleihen den Verhandlungen über den sowjetischen Truppenabzug demonstrierend Nachdruck / Optimistische Stimmung ohne sowjetfeindliche Aggressionen  ■  Aus Olomouc Walter Oswald

„Der sowjetische General hat die Revolution bisher nicht verstanden“, meinte Milon Horinek vom Bürgerforum am Beginn der bisher größten Demonstration für den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus der CSSR. In Olomouc (etwa 100.000 Einwohner) in Mähren, dem zentralen Standort der sowjetischen Truppen im mittleren Teil der CSSR, demonstrierten am Sonntag etwa 15.000 bis 20.000 Bürger (dem tschechoslowakischen Fernsehen zufolge 50.000) für den vollständigen und sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen und darüber hinaus für eine generelle Entmilitarisierung Europas.

Generalmajor Meschtcherjakow hatte, als er vor einigen Tagen erfuhr, daß die Studenten der Universität von Olomouc diese Demonstration vorbereiteten, den Rektor der Hochschule angerufen, um die Demonstration zu verhindern. Professor Josef Jarab - nach der Neubesetzung der Spitzenpositionen der tschechoslowakischen Universitäten gerade erst ein paar Wochen im Amt - war sofort bereit, den General in dessen weiträumigem Betonpalast zu treffen - allerdings aus ganz anderen Motiven: „Das ist gut, dann kann ich mir gleich die Räume anschauen, die wir in Kürze beziehen werden.“ Die Universität hat spätestens seit der geplanten Wiedereröffnung der theologischen Fakultät akute Raumnot und möchte deswegen bald in die Räume der sowjetischen Militärverwaltung einziehen.

Der verwunderte General hat aber inzwischen dazugelernt. Als am Sonntag die Demonstranten ihm mit dem Ruf „Bezte Domu“ (gehen Sie nach Hause) ihre Forderung nach vollständigem Rückzug der Truppen bis Ende Mai schriftlich übergaben, stellte er sich den Bürgern: „Auch wenn die Entscheidungen nicht von mir abhängen, ich werde alles dafür tun, um Ihrer Forderung gerecht zu werden.“ Dem Vertreter des örtlichen Bürgerforums sagte er sogar, seine Truppe sei schon dabei, die Koffer zu packen, wisse aber noch nicht, wo sie so schnell in der UdSSR ein Dach über dem Kopf bekommen kann.

Dann trat eine sowjetische Militärkapelle auf und spielte das Grundmotiv der Revolution, die tschechische Nationalhymne - und die Menge stimmte mit ein. Bei aller Entschiedenheit gab es keine anti-sowjetischen Aggressionen. Nur als der General auf russisch zu reden begann, gab es Zwischenrufe. Dann nahmen die Demonstranten zur Kenntnis, daß er auch nach 21 Jahre sowjetischer Besatzungszeit noch kein Tschechisch spricht.

Den größten Beifall bekam ein Studentenvertreter, der unterstrich, daß der Abzug der sowjetischen Armee nur der erste Schritt zu einer vollständigen Entmilitarisierung Europas sein solle. Einzelne Bürger diskutierten, ob „jetzt die Bevölkerung im Westen Bush zu ähnlichen Schritten zwingt“.

Zu der fast heiteren Stimmung der Demonstranten sagte der Universitätsrektor Josef Jarab: „Bis Anfang der achtziger Jahre gab es immer wieder Aggressionen zwischen Bevölkerung und sowjetischen Soldaten. Zum Beispiel gab es Schlägereien in den Kneipen. Seit Gorbatschow hat sich das geändert. Man kann sogar sagen, daß manche in den gefährlichen Tagen der Revolution ein Gefühl des Schutzes durch die Anwesenheit der sowjetischen Truppen in der CSSR hatten.“ Vgl. nebenstehende Kurzmeldung

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