: Der schöne Schein
■ Das sozialpolitische Chamäleon Oskar Lafontaine
Bonn (taz) - Mit Oskar Lafontaine ist ein Chamäleon zum Kanzlerkandidaten geworden. Noch vor einem halben Jahr verkörperte er eine Politik des Gürtel-enger-Schnallens (Lohnverzicht), einen Konfrontationskurs gegenüber den Gewerkschaften, die Antipode also zur klassischen sozialdemokratischen Politik der Interessenvertretung. Obwohl Lafontaine seine Positionen weder in konkret tarifpolitischer noch in allgemein ideologischer Hinsicht wesentlich revidierte, hat sich sein Image nun um 180 Grad gewendet: Er erscheint nun als der Sozialpolitiker schlechthin, der die sozialen Interessen der kleinen Leute über die große nationale Frage stellt - und bescheiden gewordene Linke jubeln ihm deshalb zu.
Der Bedeutungswandel des Oskar Lafontaine zeigt, wie sich im nationalen Taumel die Koordinaten des politischen Bewertungssystem verschoben haben: Als fortschrittlich, quasi anti-national gilt nun, wer die sozialen Abwehrinstinkte gegen angeblich gierige Übersiedlermassen aktiviert. Auch wenn es natürlich für die DDR nützlicher ist, wenn ihre Bewohner im Land bleiben: Das Strickmuster der Lafontaineschen Argumentation ist die altbekannte Demagogie der bundesdeutschen Wohlstandschauvinisten: „Das Boot ist voll.“ Der Saarländer konnte es sich überdies leisten, die nationale Frage im Sinne der auch von ihm gewollten staatlichen Einheit nur in Nebensätzen anzusprechen, weil vorerst die Arbeitsteilung mit Willy Brandt funktionierte: Der ist für die gesamtdeutschen Gefühle zuständig. Zudem strickt die konservative Presse kräftig mit an der Mär, der Kohl-Herausforderer wolle die Wiedervereinigung gar nicht.
In der realen Sozialpolitik der SPD wird aber gerade durch den Wahlsieg Lafontaines der schöne Schein rasch schwinden. Denn der Kanzlerkandidat hat nun den nötigen Rückenwind, um die noch offenen sozialpolitischen Streitfragen in der „F-90 -Kommission“ rasch in seinem Sinne zu entscheiden: Nämlich keine materielle Grundsicherung im Regierungsprogramm zu verankern - obwohl dies ein Parteitagsbeschluß verlangt und die finanziellen Leistungen im Pflegebereich möglichst klein zu halten. Für die Bedürftigen mag der kleine Napoleon einige Prozentpunkte zuviel bekommen haben.
Ch.Wiedemann
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