Das „kleine Geheimnis“ der Väter

■ Jährlich werden bis zu 300.000 Kinder sexuell mißbraucht. Zu 90 Prozent sind es Mädchen, die Täter kommen aus den Familien: Väter, Onkel, Brüder. Es sind Männer aus allen Gesellschaftsschichten. Die Opfer haben noch als erwachsene Frauen um ihre Würde zu kämpfen

Martina Burandt

Das Schlimmste am sexuellen Mißbrauch ist der Liebesbetrug, diese Enttäuschung, wenn du merkst, es dreht sich nicht um dich, wenn du merkst, du wirst nur ausgenutzt.“ Bettinas Fall ist kein Einzelschicksal, sondern gehört für tausende Mädchen in der Bundesrepublik zum Alltag. „Ich fühle mich unzulänglich für die anderen und nicht zumutbar, viel zu belastend. Störfaktor als Gesamtperson“, beschreibt Sonja ihre Erfahrungen. Bettina (22) und Sonja (21) sind beide von ihren Vätern mißbraucht worden. Was sie zu berichten haben, zeigt nur einen Bruchteil der durch diese Verachtung enstandenen Wunden.

Im Alltag ist es dagegen ein Tabu, über Kindesmißbrauch zu sprechen. Nur die Schreckensgestalt des „sexuell abnormen Triebtäters“, der mit dem normalen Bürger nichts zu tun hat, findet Beachtung in den Schlagzeilen. Sonja: „Mein Onkel meinte nur: 'Kannst du das deinem Vater nicht verzeihen? Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, daß das so schlimm war, das war doch eine Lappalie.‘ Thema in meiner Familie und Verwandtschaft war immer viel mehr, daß ich mit der Schule aufgehört habe: Die landet in der Gosse, die hängt nur rum (...).“

Nach Statistiken des Bundeskriminalamtes werden jährlich etwa 10.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch an Kindern angezeigt (§ 176 Strafgesetzbuch). Die Dunkelziffer wird mindestens zwanzig- bis dreißigmal so hoch eingeschätzt. Das bedeutet, daß jährlich bis zu 300.000 Kinder sexuell mißbraucht werden, die Fälle von exhibitionistischen Handlungen (im weiteren Sinne auch die Kinderpornographie) nicht miteinbezogen.

Die Statistiken zeigen, daß der Täter zu 98 Prozent männlichen Geschlechts ist und daß er in rund 90 Prozent aller Fälle ein Verwandter oder Freund des Opfers und seiner Familie ist. Etwa ein Viertel aller Täter sind die eigenen Väter oder Stiefväter, nur etwa sechs Prozent der Männer sind Fremde - der sprichwörtliche „Schokoladenonkel“ ist also eine Fiktion. Trotz grundsätzlich gleicher Schwere des Vergehens besteht ein gravierender Unterschied zwischen dem Mißbrauch von Mädchen und Jungen. Denn betroffen sind ganz überwiegend - bis zu 90 Prozent - Mädchen.

Der ganz normale Täter

Sexueller Mißbrauch macht vor keiner Gesellschaftsschicht halt. Der Täter entstammt weder einer gestörten noch schlecht funktionierenden Familie und ist im übrigen genauso normal oder anormal wie der übrige Teil der Bevölkerung. Sie sind Bundestagsabgeordnete, Polizeibeamte, Briefträger, Arbeiter und Arbeitslose. Sie sind jung und alt, ledig und sowohl glücklich als auch unglücklich verheiratet. (Sonjas Vater ist Lehrer, Bettinas Vater leitender Angestellter.) Sonja: „Ich habe genug mißbrauchte Frauen kennengelernt die kommen alle aus verschiedenen Schichten, und es sind keinesfalls nur die 'armen, sozial Dahinvegetierenden‘, die sich an ihren Töchtern vergreifen.“

Neben der Diskussion darüber, wie groß die Schäden sind, die mißbrauchte Kinder für ihr weiteres Leben davontragen, werden die unbestreitbaren körperlichen Risiken oftmals vergessen. Wer behauptet, daß viele Kinder sexuelle Betätigung mit Erwachsenen mögen, verkennt die Ungleichheit zwischen einem Kind und einem Erwachsenen, ganz abgesehen davon, daß aus der unterschiedlichen Körpergröße und Kraft sich klar umrissene körperliche Risiken ergeben. Folgendes Zitat stammt aus dem Bericht eines Chirurgen an den amerikanischen Nationalausschuß für Pornographie und Obszönität aus dem Jahre 1970: „Ich habe in letzter Zeit auf der Frauenstation gearbeitet. Was sich dort abspielt, ist äußerst erschreckend. Die Stationen und Krankenzimmer sind voll junger Mädchen... Sie sind innen zerfetzt. Die Reparaturarbeit, die wir leisten, spottet jeder Beschreibung. Die Mädchen sind allen Arten von sexuellem Mißbrauch ausgesetzt worden.“ (Aus: Florence Rush, Das bestgehütete Geheimnis, Orlanda-Frauenverlag) Doch diese offensichtlichen körperlichen Beweise des skrupellosen Gebrauchs von Kindern für persönliche Bedürfnisbefriedigung sind nur die eine Seite der Medaille. „Irgendwann bekam ich den Durchblick, daß es sich die ganze Zeit gar nicht um mich drehte“, beschreibt Bettina. „Ich merkte, daß ich ausgenutzt wurde.“ Zur sexuellen Ausbeutung gehört der verantwortungslose Vertrauensbruch und die Ausnutzung der kindlichen Unterlegenheit und Vertrauensseligkeit auf körperlicher wie geistiger Ebene. Aus der Ausbeutung Schwächerer zieht der Täter sein Gefühl persönlicher Bedeutung.

Auch wenn Mädchen neugierig sind, sich produzieren und eine erotische Ausstrahlung besitzen, kann ihnen nie der aktive Part im Falle eines Mißbrauchs zugeschoben werden. Die Verantwortung liegt allein beim Mann, er hat seine Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten.

Sexuelle Handlung kann alles sein: Liebkosung, ein Kuß, das Befühlen, „Begutachten“ der sich entwickelnden körperlichen Rundungen, das Betasten der Brust, verbunden mit abschätzigen oder wohlwollenden Qualitätsurteilen, das Vorführen pornographischer Filme und Fotos bis hin zum oralen, analen oder genitalen Geschlechtsverkehr, Masturbation vor den Augen des Mädchens oder Masturbationseinforderungen bis hin zur Vergewaltigung mit dem Penis, mit Fingern oder Gegenständen. Damit ist die Grausamkeit mancher Taten nur grob umrissen, die sicherlich nichts mehr mit Zärtlichkeit, körperlicher Nähe und Wärme zu tun hat.

„Früher war ich eher unterhaltend und hatte keine Schwierigkeiten, mich in einer Gruppe zu bewegen. Jetzt halte ich die ganzen Leute nicht mehr aus, fühle mich ständig beobachtet, werde unsicher. (...) Eine ganze Weile habe ich gedacht, ich brauche nur irgendwo hinzugehen, und schon kriegen alle zuviel. Ich fand mich in keinster Weise liebenswert. Alles andere als das, immer nur schrecklich und völlig unwichtig“, beschreibt Sonja.

Von sexueller Gewalt am stärksten betroffen sind Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren. In diesem Alter sind Kinder gewohnt, den Eltern zu gehorchen, sie sind besonders interessiert und neugierig und deshalb sehr leicht ausbeutbar. In den meisten Fällen ist der Täter zudem jemand, den das Kind grundsätzlich liebt und dem es vertraut. Bettina: „Ich bin gekauft worden. Mein Vater machte mir viele Geschenke, für die er dann wieder so eine unangenehme Gegenleistung erwartete.“

Das kleine Geheimnis

Sexuelle Ausbeutung in der Familie ist in den seltensten Fällen ein einmaliges Ereignis, die Handlungen dauern größtenteils über Jahre an. Dem Täter gelingt es meist, das Mädchen ohne Anwendung von Drohungen oder Gewalt in sexuelle Handlungen zu verwickeln, da es aufgrund seines Vertrauensverhältnisses erst einmal denkt, die Handlungen seien in Ordnung. Sonja: „(...) und dann habe ich mich auf seinen Schoß gesetzt, habe mich angekuschelt, die Augen zugemacht und mich einfach nur geborgen gefühlt. Und dann merkte ich plötzlich, daß er mir zwischen die Beine gehen wollte. Ich dachte in dem Augenblick nicht, das, was er macht, ist eine Schweinerei, aber ich dachte, irgendwas ist falsch, das darf nicht sein. Die Bedeutung dessen, was da passierte, wurde mir erst später klar.“ Die Grenze zwischen der unbestreitbar lebensnotwendigen Zuwendung, die Kinder bei Erwachsenen suchen, und den Berührungen, die der sexuellen Bedürfnisbefriedigung des Mannes dienen, sind fließend. Die Handlungen sind jedoch immer eine bewußte Tat. Bettina: „Es begann damit, daß ich ihn nach den ewigen Streitereien meiner Eltern trösten sollte. Irgendwann schloß er dann die Zimmertür ab.“ Nachdem es einmal gelungen ist, das Mädchen in sexuelle Handlungen zu verwickeln, fordert er es zur Geheimhaltung auf, beispielsweise als „unser kleines Geheimnis“. Schon nach kurzer Zeit oder auch beim „ersten Mal“ spürt das Mädchen - allein am Geheimhaltungsdruck -, daß die ganze Sache nicht in Ordnung ist. „Ich war so zwiegespalten“, erinnert sich Bettina, „einerseits wollte ich ihm 'helfen‘, andererseits stieß es mich ab, daß er mich wie eine erwachsene Frau behandelte.“ Zum Aussteigen ist es dann schon zu spät; wenn sie nicht mitmachen will, wird sie mit Liebesentzug, Gewaltandrohung und Gewaltanwendung gefügig gemacht. Bettina: „Als er merkte, ich entziehe mich, begann er, mich zu schlagen. Einmal schlug er mir ein Loch in den Kopf.“

Für die meisten Mädchen gibt es kaum Möglichkeiten, der Mißbrauchssituation zu entkommen. So manches Kind muß den sexuellen Mißbrauch akzeptieren, weil es keine andere Form von Liebe und Zuwendung erhält. „Meine Zerrissenheit wurde zum Grundproblem“, erklärt Bettina, „dieses gleichzeitige 'Er kann mich nicht lieben, sonst würde er mir das nicht antun‘ und 'Ich muß es tun, sonst liebt er mich nicht mehr‘.“

Überhörte Hilferufe

So werden die Mädchen - oft über Jahre hinweg - zum schweigenden, scheinbar bereitwilligen Opfer. Sie schweigen aus Angst, Scham, um die Mutter zu schonen oder um den „Familienfrieden“ nicht zu gefährden. Bettina: „Ich dachte nur: Ich bin schlecht, und wenn das jemand merkt, habe ich niemanden mehr; oder: Vielleicht stimmt das alles gar nicht. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.“ Besonders den kleinen Mädchen fehlt oft einfach die Sprache, um überhaupt ausdrücken zu können, was ihnen passiert ist. Versuchen sie, ihr Schweigen zu durchbrechen, so stoßen sie auf Unglauben, Ablehnung, Ratlosigkeit oder Nicht-wissen-Wollen. Bettina: „Meine Verwandten haben das Thema totgeschwiegen oder es kamen Vorwürfe wie: 'Dein Vater tut alles für Dich - warum bist Du so?'“

Die Signale und Hilferufe der Mädchen, wie beispielsweise selbstzerstörerisches Verhalten, Weglaufen, Nervosität, Schlafstörungen oder plötzliche Gewichtszu- und -abnahmen, werden nicht wahrgenommen oder verleugnet. Unverständlich bleibt oft die Tatsache, daß auch viele Mütter nicht eingreifen. Bettina: „Ich glaube, sie war im Grunde froh, daß ich sie sexuell entlaste.“ Meist emotional und ökonomisch von ihren Ehemännern abhängig, verdrängen sie die wahrgenommenen Konflikte innerhalb der Familie, sogar den Mißbrauch an ihrer eigenen Töchtern. Die Trennung vom Ehemann beispielsweise wird bei etlichen nur in ganz unerträglichen, ausweglosen Situationen erwogen. Die Familie bedeutet für sie oft der einzige Lebensinhalt. Selbst nach Bekanntwerden des Mißbrauchs leben viele mit ihren Männern weiter. Bettina: „Meine Mutter ist bis heute der Knackpunkt in meiner Geschichte. Irgendwie schafft sie es immer noch, mich zu enttäuschen. Die schlimmste Sache jedoch ist ihr ewiges Schweigen zu allem. Nie habe ich Rückendeckung von ihr bekommen.“

Überlebensstrategien

Als Überlebensstrategien blieb einigen Mädchen nur, den eigenen Bewegungsspielraum einzuschränken, die eigene Persönlichkeit zu reduzieren, ihren Körper bis zur Unförmigkeit zu verändern oder auf jede Art von Zuwendung zu verzichten, Berührungen zu meiden und sich abzuhärten, unsichtbar zu werden. Diese Verhaltensweisen gehen nach und nach in Fleisch und Blut über. Bettina: „Mit dreizehn Jahren habe ich zum 'ersten Mal‘ mit einem Jungen geschlafen. Ich habe die ganze Sache für ein Gesellschaftsspiel gehalten.“ Wenn Persönlichkeit und Würde durch den mißbrauchten Körper angreifbar und verletzlich werden, beginnen die Mädchen, ihren Körper von ihrer Persönlichkeit abzuspalten. Als erwachsene Frauen leiden viele darunter, die emotionale Verbindung zu sich selbst und anderen verloren zu haben und zu tiefen Gefühlen nicht mehr fähig zu sein. Bettina: „Ich versuchte, meine Freunde mit Sex zu halten. Schließlich war mein Vater auch immer dann besonders lieb, wenn er Sex gekriegt hat.“ Der Horror der Kindheit erscheint den Erwachsenen immer mehr als Sinnestäuschung. Da die Umwelt nicht dem Schrecken angemessen reagiert, wird es immer schwerer, das Erlebte einzuordnen. So leben die Mißbrauchten oft ihr Leben lang in großer Unsicherheit mit ihren Gefühlen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. „Bis heute bin ich ein wahnsinnig mißtrauischer Mensch“, sagt Bettina. „Ich rechne grundsätzlich mit dem Schlimmsten, was mir gerade in Beziehungen immer wieder im Wege steht.“ Einige greifen zu Drogen, Medikamenten und Alkohol und richten die Aggressionen, die eigentlich für den Vater bestimmt sind, gegen sich selbst.

Wie wird es den Opfern sexuellen Mißbrauchs je möglich, mit den Wunden ihrer Kindheit ein freies Leben zu führen? Grundvoraussetzung ist auf jeden Fall, das Schweigen zu brechen. Bettina: „Heute befinde ich mich auf dem Weg - mit Hilfe guter Freunde und immer wieder schmerzlicher Nabelschau. Wo ich früher emotional nur sehr wenig riskiert habe, mache ich heute die ersten Versuche, über meinen eigenen Schatten zu springen.“