piwik no script img

Asyl für einen Mühseligen und Beladenen

Der obdachlose Bürger Erich Honecker und seine Frau fanden Unterschlupf unter dem Dach der Kirche / Zwei Zimmer bei einer Pfarrersfamilie im „Bethel der DDR“ / Von Wandlitz ins neue Ghetto / Proteste von Anwohnern und Kirchenmitgliedern  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz)- Wenn man bei dem Dörfchen Lobetal, 20 Kilometer nordöstlich von Berlin, überhaupt von einem Ortskern sprechen kann, dann ist er am ehesten dort, wo „unser Jesus“ steht. „Unser Jesus“ - wie ihn die Bewohner nennen - blickt von einem mickrigen Erdhügel gnädig auf die holprige Dorfstraße nieder. Nach dem Willen seiner Schöpfer soll er hier mit weit ausgebreiteten Armen die biblische Einladung verkünden: „Kommet nach Lobetal, all ihr, die ihr mühselig und beladen seid!“

Seit Dienstag abend hat Lobetal einen „Mühseligen und Beladenen“ mehr. In der Bodelschwinghstraße Nummer 5, im Pfarrhaus direkt an der Straße, hat die Kirche in Gestalt des Pastors Uwe Holmer ihre Arme über den kranken Atheisten Erich Honecker und seine Ehefrau Margot gebreitet. In zwei Gästezimmern, von dichten Gardinen vor penetranten Fotografenaugen geschützt, haben der ehemalige Staatsratsvorsitzende und seine Frau Unterkunft gefunden.

„Asyl“ wäre wohl der treffendere Ausdruck für dieses Quartier, denn in Lobetal lebt niemand aus freien Stücken. Hier wohnt man, weil man hier arbeitet oder weil man nirgendwo anders hin kann. Ein gelbes Ortsschild weist Lobetal zwar als ganz normales Dorf aus, aber ebenso wie der frühere Wohnsitz der Honeckers ist diese Siedlung ein Ghetto. Keine Luxusenklave wie das nahe Wandlitz, eher eine recht armselige Häuseransammlung, aufgereiht entlang markerschütternden Kopfsteinpflasterstraßen ohne Bürgersteig und moddrigen Sandwegen. Lobetal ist kein Dorf, Lobetal ist eine Anstalt. Es ist das „Bethel der DDR“, ein aus mehreren Häusern und Werktstätten bestehender kirchlicher Heimkomplex mit dem zynisch-schönen Namen „Hoffnungstal“. 1905 vom evangelischen Pastor Bodelschwingh als Asyl und Arbeitsstätte für Berliner Obdachlose gegründet, sind hier heute in den verschiedenen Heimen und Krankenhäusern dieser Einrichtung 600 Menschen untergebracht - psychisch Kranke, Behinderte, pflegebedürftige Alte und Alkoholiker. Sie und die rund 300 Beschäftigten der Anstalt sind die neuen Nachbarn der Honeckers.

Gerade in diesem Ort eines Tages an der Haustür des Pastors und Anstaltsleiters Uwe Holmer um Aufnahme zu bitten, muß für die immer schick gekleidete Margot Honecker dreifach demütigend gewesen sein. Deutlicher konnte kaum demonstriert werden, daß sämtliche Freunde und Genossen den alten Mann und seine Frau gnadenlos fallengelassen haben, ihnen offenbar nicht einmal ein Zimmer geben wollten.

Hier in ärmlicher Umgebung, inmitten von Kranken und Hilfsbedürftigen Schutz zu suchen, mag für die Privilegien gewohnten Honeckers schwer genug gewesen sein. Daß sie dann ausgerechnet bei der Kirche anklopfen mußten, deren engagierte Vertreter sie von staatswegen drangsaliert, verfolgt, inhaftiert hatten, kommt einem Bußgang gleich einem Bußgang, der dann auch noch zu einem Pastor wie dem 61jährigen Holmer führte, dessen Söhne der Ex -Volksbildungsministerin Margot Honecker zu verdanken haben, daß sie nicht zum Studium zugelassen wurden. Pastor Holmer hat den Honeckers nach Rücksprache mit der Kirchenleitung unbefristet Asyl gewährt, weil er „nicht einerseits das Evangelium predigen und andererseits hilflose Menschen auf der Straße sitzenlassen kann“. Er hat sie wohlweislich in seinem Privathaus aufgenommen, denn in den „Hoffnungstaler Anstalten“ sind die Plätze knapp, und die Wartezeiten liegen schon jetzt bei zwei Jahren. Trotz dieser Vorsicht hagelte es Proteste gegen diesen „Akt der Barmherzigkeit“, wie Holmer seinen Entschluß verstanden wissen will.

Nach Bekanntwerden der Ankunft der Honeckers am Dienstag abend lief das Telefon im Pfarrhaus heiß. Proteste, Beschimpfungen, Kirchenaustritte wurden angedroht. Aber seit Donnerstag überwiegt das positive Echo. Briefe und Telefonate beglückwünschen die Entscheidung, dem kranken alten Mann aus humanitären Gründen zu helfen. Und auch in Lobetal selbst ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Die Kamerateams sind abgezogen und auch die vier jungen Leute aus Berlin, die am Mittwoch mit einem Transparent: „Keine Gnade für Honecker“ gefordert hatten, haben sich von dannen gemacht. Auf Heimelternversammlungen, auf der Straße, in den Werkstätten ist die Frage: Barmherzigkeit oder Vergeltung? immer noch Diskussionsthema. Emotional, so hört man immer wieder auf der Lobetaler Dorfstraße, wünsche man dem ehemaligen Staatschef alles erdenklich Schlechte. Doch den todkranken Bürger Honecker auf die Straße setzen, das will gerade hier, wo die Häuser nach Martin Luther, Paul Gerhardt und anderer Christenprominenz benannt sind und „Gott“ wie an keinem anderen Ort der DDR ins Auge springt, auch niemand. Ein Lobetaler Heimbetreuer bringt es auf die Formel: „Wir nehmen Obdachlose, geistig Behinderte und Alkoholiker auf, warum also nicht auch einen Staatsratsvorsitzenden?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen