piwik no script img

Ein neuer Hauptbahnhof für die Hauptstadt?

■ Verkehrsexperten sind sich einig: Berlin braucht neuen „Zentralbahnhof“ / Stadtbahnhof Lehrter Straße als Standort für unterirdischen Bahnhof / Alle warten auf das Eisenbahnkonzept von Verkehrssenator Wagner

1995 schalten die Signale auf Grün. Wenn Mitte der Neunziger die ersten Schnellbahnzüge mit bis zu 250 Sachen über die Ausbaustrecke zwischen Berlin und Hannover gleiten, rückt nicht nur die eher fade Niedersachsen-Metropole näher, sondern zugleich ganz Westeuropa. Denn die Züge, die dann im Stundentakt gen Westen rauschen sollen, werden nach zweistündiger Fahrt in Hannover nur einen Zwischenstopp einlegen, um dann Richtung Frankfurt und Köln durchzustarten.

Einmal müssen sie umsteigen, dann haben die Berliner hier Anschluß an die westeuropäische Bahnzukunft: das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz zwischen London, Paris, Brüssel, Amsterdam, an das Köln 1998 angeschlossen werden soll. Nach einer Stunde und vierzig Minuten Fahrt sind die Züge aus Köln dann in Brüssel, nach weiteren 80 Minuten in Paris und nur zwei Stunden später jenseits des Ärmelkanals in London. Mit etwa acht Stunden ist eine Bahnreise von Berlin nach London dann kürzer als heute die Fahrt von der Spree nach Stuttgart.

Traumhafte Perspektiven? Zwischen Berlin und London, glaubt Referatsleiter Lemnitz von der Senatsverkehrsverwaltung, wird die Zahl der Bahnfahrten nicht drastisch steigen. „Unter 800 Kilometer Entfernung dagegen“, so hofft der AL -Abgeordnete Michael Cramer, „brauchst du dann nicht mehr zu fliegen“. Nach seiner Meinung werden nicht nur die Flüge nach Hannover, Bremen oder Hamburg überflüssig, sondern auch manche Starts Richtung Frankfurt.

SPD mahnt Konzept an

Die Stichstrecke nach Westen ersetzt allerdings nicht das Eisenbahnkonzept für Ganz-Berlin, das auch der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Burkhardt Thiemann, „endlich“ sehen möchte. Von SPD-Verkehrssenator Wagner habe er bisher „nur Bruchstückhaftes“ zur Eisenbahnplanung gehört, beklagte Thiemann gegenüber der taz. Wagner-Planer Lemnitz, zur Zeit mit den Plänen zur Reaktivierung alter S-Bahn-Linien ins Umland vollauf beschäftigt, hält sich weiterhin bedeckt. „Wir konnten das nicht fertig aus der Schublade ziehen“, verteidigt er sich.

Ein „abgestimmtes Schienenverkehrskonzept“ sei „dringend erforderlich“, schreiben aber auch die Regionalplaner von Umweltsenatorin Schreyer in einem 21seitigen Papier mit „Überlegungen zur Weiterentwicklung des Berliner Schienenverkehrs nach Öffnung der Grenzen“. Zu tun gibt es genug: Bis zum Krieg war Berlin die Eisenbahnmetropole Mitteleuropas. Seit dem Krieg und spätestens mit der Teilung verkümmerte das Netz. Die Züge Richtung Westen und Osten schleichen mit Tempo 60 über veraltete Gleisanlagen und stehen stundenlang an den Grenzen. Bäume, Sträucher und Gräser überwuchern die riesigen Gleisanlagen auf dem Südgelände oder dem Gleisdreieck. Nicht viel besser sieht es im Ostberliner Eisenbahnnetz aus; mit Gütertransporten ist es - wie DDR-Experten beklagen - überansprucht. „Sehr verspätungsanfällig“ sei der Zugverkehr „ab Erreichen des Berliner Außenrings“, wird in dem Papier der Umweltverwaltung konstatiert. Regionalzüge fahren in der Regel nicht in die Stadt hinein, sondern beginnen an den Endpunkten der S-Bahn. Ursachen: die „Überlastung der Ostberliner Bahnanlagen“.

Von den 30 Millionen Fernreisenden, die 1989 nach West -Berlin fuhren oder hier starteten, wählten ganze vier Millionen die Bahn. Cramer zitiert Verkehrswissenschaftler, die nach Öffnung der Grenzen mit jährlich 100 Millionen Fernreisen rechnen; 40 Prozent davon möchte der AL-Politiker auf die Bahn lenken. Spätestens zur Olympiade im Jahr 2000 müsse das Schienennetz in Berlin ausgebaut werden, meint Cramer - schon um eine Überlastung der Flughäfen zu vermeiden, die dann für internationale Flüge gebraucht werden.

Einen schnelleren Transitverkehr mit Inter Regio und Inter City gen Westen und eine „Integration West-Berlins in den DDR-Binnenverkehr“ stehen auf der Wunschliste der Schreyer -Planer: Züge aus Magdeburg beispielsweise sollten generell über die Stadtbahn West-Berlin durchqueren. Neben der S-Bahn fürs nahe Umland müßten Regionalschnellzüge „stündlich/halbstündlich“ zwischen der Stadt und den Zentren der weiteren Umgebung pendeln. Und im internationalen Verkehr wollen Schreyers Regionalplaner „vor allem“ bessere Schienenwege nach Osteuropa und Skandinavien schaffen.

Neuer Zentralbahnhof

Auch wenn es nach Meinung eines Schreyer-Planers noch „viel, viel zu früh“ ist, über konkrete Projekte zu sprechen, sind sich die West-Berliner Verkehrsexperten doch an einem Punkt schon erstaunlich einig. Die Stadt braucht - so unisono CDU oder AL, Umwelt- oder Verkehrsverwaltung - einen „neuen Zentralbahnhof“ für den Nord-Süd-Verkehr. Richtung Süden, so argumentiert der CDU-Verkehrsexperte Giesel, sei der „größte Teil des Verkehrs“ zu erwarten. Im Norden liegen außerdem Skandinavien und die Ostsee; im Süden Sachsen und das Dreieck „Prag/Wien/Budapest“.

Während der Ost-West-Verkehr weiterhin die verschiedenen Haltepunkte an der Stadtbahn (Charlottenburg, Zoo, Friedrichstraße, Ostberliner Hauptbahnhof) als „einzigen großen Hauptbahnhof“ nutzen kann, fehlt gleiches im Nord-Süd -Verkehr. Die alten Kopfbahnhöfe - zum Beispiel der Potsdamer und der Anhalter Bahnhof - wurden im Krieg zerstört, die Reste abgerissen. An ihren Wiederaufbau denkt niemand. Zunächst, so meinen die Planer der Umweltverwaltung, könnte für die Nord-Süd-Züge ein neuer Fernbahnhof in Westend oder Witzleben gebaut werden. „Eine weitere Kapazitätssteigerung und vor allem Beschleunigung des Fernbahnverkehrs (beispielsweise die Eröffnung weiterer Schnellstrecken Richtung München, Prag) im inneren Stadtgebiet“ wäre nach Ansicht der Planer aber „eher durch eine innerstädtische Tunnelstrecke vom Hamburg-Lehrter Güterbahnhof zum Südring/Bahnhof Papestraße denkbar“.

Über die Notwendigkeit dieses Tunnels und über den Standort eines Zentralbahnhofs sind sich Wagners Verkehrsplaner und Schreyers Experten, AL-Cramer und der CDU-Giesel praktisch ausnahmsweise völlig einig: Am Lehrter Stadtbahnhof, mit Umsteigemöglichkeit zu den Ost-West-Zügen. Etwa sieben bis acht Meter tief unter der Erde würden die Bahnsteige des „Bahnhofs Zentral“ gebaut, spekuliert ein Wagner-Planer. Über der Erde stünde die Bahnhofshalle.

Die große Eisenbahneinigkeit ist gar nicht so erstaunlich. Bis ins Jahr 1911 reichen alte Planungen der Reichsbahn zurück, die an dieser Stelle Tunnel und Zentralbahnhof vorsehen. Erst verhinderte der Erste Weltkrieg ihre Realisierung, dann war es Hitlers Chefarchitekt Albert Speer, der sich querlegte. Diesmal - Olympia und Hauptstadtpläne im Nacken - könnte es vielleicht klappen. Bis zum Jahr 2000 könnten Tunnel und Bahnhof stehen, meint der AL-Politiker. Er veranschlagt drei Jahre Planungszeit und fünf Jahre für den Bau. Cramer hat sogar schon Kostenschätzungen parat: eine Milliarde Mark.

Hans-Martin Tillack

Siehe auch Bericht über den Ostberliner Hauptbahnhof auf Seite 28

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen