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„Kündigung wird kein Tabu mehr sein“

■ In Ost-Berlin diskutierten Lehrerinnen und Lehrer mit dem stellvertretenden Bildungsminister Volker Abend über die Zukunft ihres Schulsystems / Keine guten Noten auf Weisung von oben mehr / Lehrer wollen keine Leistungsklassen / „Böses Erwachen“ für Pionierleiter

„Neue Ziele - neue Wege - neues Denken“, so lautete der Titel einer Diskussionsveranstaltung, die jetzt im „Haus des Lehrers“ in Ost-Berlin veranstaltet wurde. Hunderte verunsicherter LehrerInnen wollten von Volker Abend, Mitglied des Neuen Forums und seit wenigen Wochen stellvertretender Bildungsminister der DDR, wissen, wie es in dem in ihren Grundfesten erschütterten Bildungssystem der DDR weitergehen soll. Leicht sei, so Abend in seiner Eröffnung, Auswüchse des stalinistischen Bildungssystems abzuschaffen. Gründlicher Überlegungen bedürfe es dagegen, das DDR-Bildungssystem so umzugestalten, daß es auch bei einer möglichen Vereinigung beider deutscher Staaten Bestand haben und konkurrenzfähig sein könne. Abend warnte zugleich davor, die relativ ruhige Situation an den Ostberliner Bildungseinrichtungen mit der in der übrigen DDR zu verwechseln. An den Schulen im Süden der DDR sei die Lage viel dramatischer. Täglich gebe es Bombendrohungen, Schüler griffen Lehrer tätlich an, die soziale Atmosphäre sei äußerst gespannt.

Erst wenige Reformen konnten, erläuterte Abend, in den Schulen der DDR vorgenommen werden. Bei den Fremdsprachen ist es nun möglich, in drei großen europäischen Sprachen Prüfungen abzulegen. Das obligatorische Fach Russisch ist abgeschafft worden. „Leistungsklassen“ (ab Klasse 9) sind eingerichtet worden, die auf das Abitur vorbereiten. JedeR SchülerIn der DDR soll diese Klassen besuchen dürfen, wobei die Entscheidung bei den Eltern und SchülerInnen liegt. Auch die Eigeninitiative der Schulen, in der Vergangenheit meist von Staats wegen unterbunden, soll gefördert werden. Eine Reform, betonte Abend, ist jedoch ohne die Durchsetzung höherer Leistungsanforderungen nicht möglich. Wer zum Beispiel am Ende des neu eingeführten Probehalbjahrs Tests in den Leistungsklassen nicht bestehe, muß sie wieder verlassen. Abend appellierte an die Schulen, aus politischen Gründen entlassene Lehrer wieder für die Arbeit in den Schulen zurückzugewinnen. Und auch für Lehrer wird das Wort „Leistung“ Bedeutung gewinnen, denn, so Abend, das Wort „'Kündigung‘ wird kein Tabu mehr sein“. Abend verwies in diesem Zusammenhang auf die Forderungen des Runden Tisches, Lehrer nach ihrer konkreten Tätigkeit zu entlohnen, Titel abzuschaffen und die alte Beförderungsordnung abzuschaffen.

Die LehrerInnen beherrschte nach diesen Eingangsbemerkungen eine große Sorge: „Stimmt es“, so die besorgte Frage einer Lehrerin, die sich als Kommunistin vorstellte, daß nach den Wahlen alle Lehrer, die Mitglied in der SED (PDS) sind, entlassen werden?“ Abend bezeichnete solche Gerüchte als „absoluten Blödsinn“. Er beruhigte, daß in Zukunft jeder seine Meinung in der Schule äußern könne. Doch Druck auf Schüler wegen politischer Meinungsunterschiede werde nicht mehr geduldet. Besonders die Aktivitäten der „Jungen Pioniere“ in den DDR-Schulen sollen sofort eingestellt werden. Für einige Pionierleiter, die in der Vergangeneheit politisch unbotmäßige SchülerInnen ausgegrenzt haben, wird es, daran ließ Abend keinen Zweifel, „ein böses Erwachen geben“. Schulleiter, die nicht mehr das Vertrauen von Eltern und LehrerInnen haben, sollen die Vertrauensfrage stellen und durch neue Leiter ersetzt werden.

Besonders die Einführung von „Leistungsklassen“ stieß bei dem Publikum auf Widerspruch. Man warnte vor der Benachteiligung von SchülerInnen, die nicht den Sprung in diese Klassen schaffen. Doch diesen Einwand ließ Abend nicht gelten. Wer sich nicht anstrengt, meinte er provokant, dem wird „eines Tages ein BRD-Arbeitsloser den Arbeitsplatz streitig machen“. Die Note Eins wird es danach nur noch selten geben, die Note Fünf dagegen sehr viel schneller. Als „schlimmes Verbrechen“ bezeichnete Volker Abend die Vergabe von „guten Noten per Anweisung von oben“ in der Vergangenheit.

Abend machte zudem klar, daß es mit der einfachen Abschaffung des Ideologiefaches „Staatsbürgerkunde“ nicht getan ist. Für das neue Fach „Gesellschaftskunde“ sollen die alten Lehrbücher nicht mehr benutzt werden und auch die LehrerInnen des in Verruf geratenen Faches sollen nicht mehr in „Gesellschaftskunde“ eingesetzt werden. Sie haben, wurde Abend deutlich, das Vertrauen der Schüler und Eltern mißbraucht. Sollten sie sich in anderen Fächern als unfähig erweisen, müssen sie mit ihrer Entlassung aus dem Schuldienst rechnen.

Zur Frage von Modell- und Experimentierschulen äußerte sich Abend positiv, warnte aber davor, zu viele Waldorfschulen in der DDR zuzulassen. Waldorf-Schulen sind für ihn ideologische Schulen „mit christlicher Grundhaltung fern der Kirchen“, und Ideologie solle ja gerade aus den DDR-Schulen herausgehalten werden. Dem Minister geht es um Alternativen zur öffentlichen Schule in der DDR, die gefördert werden sollen.

Zum Schluß der Veranstaltung erhielt den heftigsten Beifall ein Rednerbeitrag, der für alle Lehrer in der DDR den Beamtenstatus forderte. Über die politisch-moralische Mitverantwortung zahlloser auch nicht parteigebundener DDR -Pädagogen für die Aufrechterhaltung der stalinistischen Zwangsherrschaft wurde dagegen bei dieser Veranstaltung kein Wort geäußert.

Wolfgang Schenk

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