: RITZEN, SCHREIBEN, HAUTLESEN
■ Kathy Acker liest im Literaturhaus
„Es könnte sein“, so vermutetet Gustave Flaubert, „daß wir alle seit Sophokles tätowierte Wilde sind. In der Kunst gibt es aber noch etwas anderes als die Geradheit der Linien und die Glätte der Oberflächen. Die Plastik des Stils ist nicht so groß wie die Idee insgesamt... Wir haben zu viele Dinge, die Formen reichen aber nicht aus.“ Die in London lebende amerikanische Experimental-Dichterin Kathy Acker widmete ihren neuen Roman Im Reich ohne Sinne (Empire of the Senseless) gleich von vorne herein ihrem Tätowierer: „Vor allem in diesem Bereich hat der Körper eine ganz entscheidende Bedeutung. Je weniger ich mich für tradierte Kunstformen interessiere, desto mehr fasziniert mich die Tätowierung. Das ist eine Kunstform, die sich außerhalb des Diskurses und des Systems totaler Vermarktung befindet. Es ist eine ungeheuer persönliche Angelegenheit: Der Künstler arbeitet direkt auf deinem Körper, und du verbringst den Rest deines Lebens mit diesem Kunstwerk. Die Tätowierung hat mit der Suche nach einer Sprache zu tun, die sich dem Körper annähert, die etwas Substantielles, nicht unbedingt Sexuelles, meint und ganz unmittelbar ist“, sagte Acker in einem Interview.
Kathy Acker - Wilderin, Piratin im Meer der Diskurse, die sie - übrigens erklärtermaßen Matrosenfetischistin - so lange miteinander seemannsvergarnt und um die Körper und Hälse der lesenden Kopflosen schlingt, bis Ohnmacht einzieht in die Leiber - „Masochismus ist nichts anderes als politische Rebellion“, ja, auch das Erproben ihrer Satzketten. „Beim Schreiben bewege ich mich und lande irgendwo, völlig unerwartet. An all diese Orte führt mich die Sprache. In Empire wußte ich nie genau, worauf ich hinauswollte, ich wußte nur, daß es so für mich stimmte. Wenn ich schreibe, sieht das etwa so aus: Ich nehme mir einen fremden Text vor und beginne, ihn nachzuschreiben. Dabei bewegt er sich, das heißt die Geschichte in meiner Phantasie, von selbst irgendwohin. Empire soll ein Traum sein. Zunächst wird eine Abenteuergeschichte über zwei Suchende, zwei Piraten, zwei Fremdenlegionäre erzählt. Thivai und Abhor (die Hauptfiguren, die jeweils ihre Geschichte erzählen) bewegen sich weniger durch eine konkrete Landschaft als durch Texte, aber es ist eine Reise. Man muß nicht auf jedes Detail achten, was man auch gar nicht kann, weil der Text nicht nahtlos ist und auch durch die Slippages (wie Acker ihr Verfahren bezeichnet) immer wieder Brüche entstehen, man soll ganz einfach (mit -)träumen. Der Leser schwimmt von einem Text zum nächsten, gleitet mit dem Erzählfluß dahin. Ich hoffe, in der Sprache ist so viel Sinnlichkeit und in den Bildern und Tönen genügend Bedeutung, daß man sich dem Träumen überlassen kann. So als versänke man in Musik und tauchte wieder auf aus ihr.“
Kaum ein Satz erinnert an den letzten, und was eine halbe Seite vorher war, schwingt nur noch als unbestimmte Ahnung mit - Kathy Ackers hermetische Wortwelt baut sich auf wie das Gewölk zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Denken und Vegetieren, zwischen Kultur und Natur: Wenn ich merke, daß ich nicht mehr weiß, welches mein vorletzter Gedanke war, dann weiß ich (nur noch) daß ich endlich einschlafe. Vielleicht ist dies wirklich die Sprache, die sich dem Körper annähert.
grr
Heute um 20 Uhr liest Kathy Acker im Literaturhaus aus ihrem Roman „Reich ohne Sinne“, der von Sabine Saßmann und Barbara Jung übersetzt wurde, im P.S.Verlag Peter Selinka erschienen ist und 30 DM kostet. Barbara Jung liest die deutschen Texte.
Außerdem auf deutsch erschienen: „Die Geschichte der Don Quixote - Ein Traum“, ebenfalls P.S.Verlag, 26 DM.
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