: Das Reichsgespenst
■ Das Nationale als Monopol einer Selbstverstümmelungsfurie
Ulrich Sonnemann
Die Freiheiten, die sich revolutionär zu erkämpfen die Bevölkerung der DDR im Begriff ist, sind ihre eigenen Errungenschaften, insofern in der deutschen Geschichte, die für ihre Revolutionsunfähigkeit bisher notorisch war, völlig beispiellos: Aus ihrem Anteil an dieser Geschichte hat die Bundesrepublik bei allem Überlegenheitsgetue ihnen nichts Eigenes entgegenzusetzen. Was sie an Freiheiten für sich verbuchen kann, hat sie sich selbst nie gewonnen, es ist ihr nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Alliierten geschenkt worden; während den Ostdeutschen gar keine Wahl blieb, als im politischen System des östlichen unter den Siegern sich einzurichten.
Da die Hermetik dieses Systems bis vor kurzem, wie immer irrtümlich, für unsprengbar galt, ist die Möglichkeit nicht von vornherein auszuschließen, daß Aufsässigkeit gegen es ihre Keimzellen bis hinein in die SED hatte (etwa in Leipzig), pauschale Verdammungen von SED-Angehörigen sich also verbieten.
Analoges gilt wirtschaftlich: nämlich für einen Vergleich der ökonomischen Systeme, bei dem sich die bundesdeutsche Tendenz zur Geschichtsverdrängung jetzt am unskrupulösesten austobt. Während jene Planwirtschaft des verabsolutierten Staates als Monopolkapitalist tatsächlich versagt hat, auf die über ein halbes Jahrhundert lang die Wirtschaftsweise des europäischen Ostens hinauslief, kann das Maß dieses Versagens für den Fall der DDR jedenfalls erst bestimmt werden, wenn man die Riesendifferenz der Reparationslasten zwischen West und Ost und den Marshallplan, der im Osten ausblieb, in Rechnung stellt - und wer im zelotischen Gänglerbetrieb der veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik täte das.
Dem Triumphgeschrei vom Ende des Sozialismus ist also unbeeindruckt entgegenzuhalten, daß das, was da zusammenbricht, der Kapitalismus in seiner fortgeschrittensten Form ist, nämlich seiner monopolistischsten: Insofern dürfte dieser Zusammenbruch nur die Vorhut sein des tendenziell längst schon Ablesbaren, der in der wachsenden Monopolmacht und sinkenden Anzahl konkurrierender Wirtschaftsriesen (meist schon „Multis“) beschlossen liegt, der immer deutlicher den pluralistischen Glauben, unter dessen Ägide sie sowohl einander als auch die planetarischen Ressourcen auffressen, Lügen straft: Wieso sollte der Kollaps einer Produktionsweise nicht dort anfangen, wo ihr Widersinn am extremsten ist. Für den Sozialismus, den angeblich fehlgeschlagenen, gilt, was Bernhard Shaw schon vom Christentum in Erinnerung brachte: „It has never been tried.“
Mit der Gefahr, die noch fortwährend zunimmt, daß in der Zwischenzeit Gorbatschow auf halbem Wege gestürzt wird, die Perestroika an den Apparatschiks sowohl der sowjetischen Versorgungsökonomie als auch des großrussischen Machtanspruchs über die Völker der sowjetischen Peripherie scheitert, wächst die Dringlichkeit, dem ostdeutschen Aufstand zu Hilfe zu kommen, solange noch Zeit ist. (Er ist keineswegs unter Dach!) Das geht nur auf einer dezidierteren Linie (als die Grünen bis heute zuwege brachten) gegen die bevormundenden theoretischen Anmaßungen und sich mit ihnen begründenden praktischen Hinhaltmanövern der gegenwärtigen Bundesregierung. Ohne eine wirksame öffentliche Einschärfung, daß die Bundesdeutschen von den Ostdeutschen jetzt alles zu lernen haben, nicht etwa umgekehrt, dürften die Apparatschiks in West und Ost - die dort wie hier jetzt um nichts so sehr wie um Zeit kämpfen - sich so scheinfeindlich gegenseitig wieder hochschaukeln, wie sie das vierzig Jahre lang mit notorischem Erfolg praktiziert haben.
Schon Karl Marx hielt bürgerliche Revolutionen für ein so unüberspringbares Stadium des emanzipatorischen Prozesses der Menschheit, daß er als Interpret des amerikanischen Sezessionskriegs uneingeschränkt für Abraham Lincoln, den kapitalistischen Norden gegen den feudalen Süden, Partei ergriff. Insofern holt das, was in der DDR gerade vorgeht, den Gewinn dieser Stufe jetzt nach, die die deutsche Geschichte versäumt hat, und verlagert ihr dynamisches Zentrum nur so deutlich, damit jetzt nach Osten wie vice versa dessen Angewiesenheit auf dieSelbstverständlichkeit westdeutschen Beistands eine viel fester gefügte Einheit des Landes sich erweist, als in der „Wiedervereinigung“ Platz hat. Was dieser Begriff noch zu bieten hat, ist das Warnende, unerträglich Beengende eines Alptraums, seines paralysierenden Sogs: Selbst Willy Brandt hat in seiner Rede in Schöneberg das „Wieder...“ darin ominös gefunden, ist, wie meist in solchen Fällen, dieser Aufschlüsse verheißenden Spur nur nicht nachgegangen.
Tut man es, wird schnell klar, daß Bismarcks Zwangsveranstaltung, seine dreiphasige Blut- und Eisengründung, die nach weniger als einem Dreivierteljahrhundert in Schanden schon wieder vergangen war, in der Tat nicht als Modell einer möglichen deutschen politischen Einheit in Frage kommt - um so schwerer es nur offenbar jetzt den Deutschen fällt, dieses Schnittmuster loszuwerden. Wie wenig sie in ihrer eigenen Geschichte, die schließlich schon ein bißchen länger währt, sich inzwischen auskennen, ist buchstäblich sagenhaft - und desto zwangloser also vorstellbar, daß eine Partei mit alternativem Anspruch so gezielt gerade bei dieser Thematik von der bundesdeutschen parlamentarischen Verhaltensnorm abweicht, daß es deren Kalamitäten zum Tanzen bringt.
Die undogmatische Linke folgt angesichts des jetzigen Geschehens der sehr verständlichen, aber unperzeptiven, darum im Fazit unkritischen Neigung, das „Nationale“ einfach der Rechten, die es in sein Gegenteil umlog, zu überlassen. Die Vermutung darf konstatiert werden, daß diese Verwechslung von Thema und These, die schon ihrerseits bloß ein glaubenskriegerisches, von der Geschichte diskreditiertes deutsches Erbe ist, mit weiterem Fortschreiten des revolutionären Prozesses, der vom Osten her - nicht etwa gilt das gegenteil, wenn es auch noch so laut verkündet wird - uns erreichen möchte, an seine natürliche Grenze stößt, diese Spielart also von selber jedenfalls darf darauf gehofft werden - sich erledigt. Die komplexere Spielart ist die, der seit jeher die SPD frönt; welcher Unterschied ihrer Ingredienzien betrifft, denn desto einfältig simpler gerät, als ihre Vereinigung und Verdeckung zugleich fungierend, das politische Resultat. Es besteht in einem so mechanischen wie beeilten „Wir auch!“, das sie schrilleren Rufen des Vaterlandes, ohne deren Authentizität zuvor überprüft zu haben, entgegenbringt - wie 1914 modellhaft. Die Ingredienzien sind, was sie sind, nicht als einzelne voneinander unabhängige, die erst zusammenträten, sondern selbst bereits ineinander verschränkt, aufeinander verwiesen - daher die Komplexion. Auch unter ihnen figuriert, was zur Bestimmung der erstgenannten Spielart schon ausreicht, die Verwechslung einer gegnerischen These mit ihrem Thema, die nur einstimmender hier als in dem ersten Fall auf deren Überlassung an den Gegner hinausläuft, sich gerade dort also, wo zudenken wäre, mit einem Assoziieren begnügt, das dessen Gegenteil und Ersatz ist. Für eine Partei von sozialökonomischer Interessenpriorität, „vertikaler“ also, liegt das beim Auftritt einer „horizontalen“ Thematik einerseits nahe, andererseits ist stille Bedingung schon dieses Naheliegens, daß am von oben waltenden Kriterium für die Verläßlichkeit eben „horizontaler“ Bestimmungen, einer idealen Einheit des Volksinteresses mit dem Staat nämlich, nicht ernstlich gezweifelt wird; zweites Ingrediens ist also die notorische Teilhabe - von Lassalle und Bebel über Ebert bis zu Wehner und Schmidt - der SPD am deutschen Staatsfimmel, dieser Bestimmung eben schon des Nationalen selber von einer an den Himmel projizierten Abstraktion her statt jakobinisch von unten; welchen Fimmel es in anderen Parteien der gleichen Internationale nicht gibt. Da er nichts als Unheil gezeitigt hat, ein normal funktionierendes Gedächtnis das melden müßte, reicht nur schließlich auch er nicht, und in der Tat gibt es ja auch sonst Indizien, daß die Geschichtsverdrängung der Bundesdeutschen jetzt ein Zug fast der ganzen Bevölkerung, jedenfalls auf die gesellschaftlich Herrschenden nicht beschränkt ist; womit wir bei jenem dritten der Ingredienzien sind, ohne das unbegreiflich bliebe, warum so geschichtsnotorisch Offenkundiges wie die Selbstverstümmelungsfurie, deren Monopol auf das Nationale zuvorderst in Deutschland zu brechen wäre, in der Öffentlichkeitsarbeit der SPD nie auch nur die mindeste Rolle spielt, oder wiese sie je etwa auf den einfachen Sachverhalt hin, daß in ihren mörderischen Geschichtskatastrophen, die inzwischen ihr Sprachgebiet auf die Hälfte seines Umfangs im 18.Jahrhundert vermindert haben, die Deutschen ohne Ausnahme von Regierungen der Rechten geführt wurden? Viel zu verstrickt hat die SPD bis heute an einer sonderbaren Diskontinuität des Bewußtseins, die ihrerseits zum Kontinuierlichsten an den Irrgängen der deutschen Geschichte zählt, selber schon teil.
Eine These wie meine eigene (seit den frühen Sechzigern) von der revoltierenden Revolutionsunfähigkeit der Deutschen zielt wie alle Theorie, die Geschichte einzuholen versucht, auf nichts inniger als eine mögliche Praxis, mit der Geschichte sie überholt; nicht leichtfertig argumentierte schon Schelling für die Unvereinbarkeit von Theorie und Geschichte und meinte doch keineswegs so Absurdes damit wie ihre gegenwärtige Ignorierung. Zu lange sind die Deutschen so den Verkündigungen der Menschenrechte wie der Freiheit selber, die schon ihre Voraussetzung war, hinterhergehinkt; sollte es Zeit für sie sein, sich erstmals in einer politischen Struktur - da alles Präzedierende das Werk der Monarchen war - zu vereinigen, ist es mindestens so sehr Zeit für sie, statt ihren Staat abermals zu einem Selbstzweck, machtbesessenen Monstrum mißraten zu lassen, ihn als eine feiertägliche Instanz wehrlosen Ratgebens rings den Königen und den Völkern zu konzipieren, wie Friedrich Hölderlin es im Sinn hatte.
Deutlich ließe eine solche Möglichkeit jetzt viel weniger sich von Bonn her verwirklichen als etwa von Leipzig. Es sei, befand schon Goethe, der dort studiert hat, „ein klein‘ Paris und bildet seine Leute“, das Überraschende ist also lediglich, daß es das immer noch tut.12.1.1990
Auszüge aus einem Beitrag für die neueste Ausgabe von 'Kritik und Krise‘.
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