: „Ich, Intellektueller und Präsident“
Interview mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Vaclav Havel ■ D O K U M E N T A T I O N
Herr Präsident: Was vermag ein „waschechter“ Intellektueller an der Führung eines Landes mitten in der Revolution auszurichten?
Vaclav Havel: Er kann versuchen, ein guter Präsident zu sein. Er kann versuchen, seinen hohen Auftrag - den er niemals zu erhalten geglaubt hat - nach seinem Gewissen zu erfüllen.
Ihr Fall ist ja nicht vereinzelt. In Rumänien wurde Andres Plesu zum Erziehungsminister ernannt, der Philosoph Janos Kis ist einer der Führer der „Demokratischen Allianz“ in Ungarn, in Polen repräsentiert der Historiker Brinislaw Geremek Solidarnosc im Parlament; die Malerin Bärbel Bohley gehört zu den Gründern des Neuen Forums in der DDR. Wieso beteiligt sich die Welt der Kulturschaffenden derart an der unmittelbaren politischen Aktion?
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens treten die Intellektuellen an diese Stelle der Politiker, weil es diese hier einfach nicht gibt; die Figur des Politikers ist in diesen Ländern eliminiert worden, weil dort ja nur die totalitären Manipulatoren und nicht die Politiker regiert haben. Wer, wenn nicht die Intellektuellen, soll sich denn nun in Ermangelung von Berufspolitikern um die Politik kümmern? Der zweite Grund leitet sich aus der globalen Situation her: In der modernen Welt müssen die Intellektuellen, mehr noch als die Politiker, die Regierungsverantwortung übernehmen, so wie das auch im Altertum der Fall war.
Hinsichtlich der Theorie des Kompromisses, wen bevorzugen Sie da: Sartre oder Camus?
Camus natürlich.
Präsident Havel, welche ist Ihre Ideologie? Nach welchen Bezugspunkten richten Sie Ihr Handeln in der Prager Burg, dem Präsidentensitz, ein?
Ich hänge keinerlei Ideologie an. Ich hänge auch keinerlei Lehre an. ich habe eine eigene Meinung, ein allgemeines Empfinden, mein Vorgehen ist unabhängig von irgendwelchen vorgegebenen ideologischen Strukturen oder von irgendwelchen Denkschulen. Ich stehe außerhalb jeglichen historischen „ -ismus“: Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus. Trotzdem haben natürlich manche Philosophien einen großen Einfluß auf mich gehabt: die moderne Philosophie, die Phänomenologie, der Existenzialismus, der Hamnusmus Masaryks...
Sind Sie religiös, Katholik?
Ich habe einen besonderen Glauben. Ich bin ein Mensch, der in gewisser Weise glaubt. Dennoch würde ich nicht wagen, mich als Katholiken, Buddhisten oder Angehörigen irgendeines anderen bestehenden religiösen Glaubens zu bezeichnen.
Wohin wird sich die Tschechoslowakei unter Ihrer Präsidentschaft bewegen?
Ich entscheide ja nicht alleine über die Zukunft der Tschechoslowakei; das ist der erste große Unterschied zur Zeit von vor nicht einmal eineinhalb Monaten. Sie müssen jetzt ihre Frage an das tschechische und das slowakische Volk richten. Ich bin davon überzeugt, daß es für uns keine Rückkehr zur Vergangenheit gibt. Hier ist schon Neues entstanden. Angesichts der derzeitigen Situation in der Tschechoslowakei, sowohl in moralischer wie kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, halten wir es für unabdingbar, einen eigenen Weg einzuschlagen. Danach können sich die Ideologen überlegen, wie sie diesen neuen Weg nennen. Ich träume von einer „vollkommen menschlichen Republik“. Das bedeutet ein sozial völlig gerechtes, wirtschaftlich starkes Land, das uns zwingt, die Dynamik des Marktes zu akzeptieren. Wir stellen uns nichts Utopisches vor, das man dann in die Praxis übersetzen muß, und wir wollen auch nichts auf einer Spielwiese aufbauen: Wir haben Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende von Tradition auf dem Rücken und müssen auf dem Boden aufbauen, auf dem wir leben.
Was halten Sie von Gorbatschow?
Ich weiß nicht, wie Gorbatschow ist und was er will. Ich kenne ihn nicht, hoffe ihn demnächst aber zu treffen. Ich habe um eine Unterredung unter vier Augen gebeten. Danach hoffe ich etwas klarer zu sehen. Derzeit kenne ich seine Persönlichkeit und seine Arbeit nur sehr schemenhaft, eigentlich nur durch den Filter der Medien.
In welche Richtung bewegt sich die UdSSR?
Ich habe gewisse Vorstellungen über die UdSSR, aber die Erfahrung sagt mir, daß man, wenn man ein verantwortungsvolles Amt innehat, sich öffentlich allenfalls sehr zurückhaltend äußern darf. Von diesem Standpunkt aus besteht das Interesse der Tschechoslowakei, wie auch natürlich der Menschen in aller Welt, darin, daß die großen, sich immer schneller vollziehenden Veränderungen in der UdSSR friedlich und ohne Traumata vor sich gehen.
Glauben Sie, daß die Länder Osteueropas einander parallele Entwicklungen durchmachen? Und in wlecher Weise werden sie sich an Westeuropa anschließen?
Wir haben mit einer Reihe überaus intensiver Kontakte mit den Polen begonnen, den Ungarn - und mit uns selbst. Und natürlich auch mit verschiedenen westlichen Politikern, die zu Besuch zu uns gekommen sind oder die wir besucht haben. Wir suchen nach einer Formel koordinierter Rückkehr unserer Länder nach Europa, und gleichzeitig wollen wir auch einen Weg finden, der Europa dazu in den Stand setzt, diesen Körper aufzunehmen, der da so reuevoll heimkehrt. Das ist eine Aufgabe, die freilich nicht nur uns betrifft, sondern auch das übrige Europa.
Besteht nach dem Beginn des Dialogs Ost-West nicht die Gefahr, daß die Nord-Süd-Frage in den Hintergrund gerät? Kann es nicht zu einer ungerechteren Gesellschaft als heute kommen?
Nein, im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, daß ein echter Nord-Süd-Dialog - der sowieso unvermeidlich ist - auf einer neuen Basis stattfinden muß, und zwar so schnell wie möglich. Von daher bereits war es unabdingbar, daß es auch eine Klärung zwischen dem Osten und dem Westen gegeben hat. Wir, die Tschechen und die Slowaken, wollen auch am Nord-Süd -Dialog teilnehmen. (...) Wir müssen das Bild einer nur zwei - oder dreipoligen Welt aufgeben: Dies ist eine Welt, die sich nicht auf dem Gleichgewicht von zwei oder drei Supermächten aufbaut.
Werden Sie nach den ersten demokratischen Wahlen am 8.Juni weiter Präsident sein? Werden Sie noch Raum finden, auszureißen und zu schreiben, was Ihnen in Wirklichkeit wohl mehr gefällt?
Es hängt nicht von mir ab, ob ich nach den Wahlen weiterhin Präsident bleibe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich so schreibt es das Gesetz vor - nach freien Wahlen noch vierzig Tage Präsident bleibe: Innerhalb dieser Zeit muß die Generalversammlung einen neuen Präsidenten wählen. Zum Schreiben habe ich keine Zeit mehr; wenn ich mal Zeit habe, nütze ich diese, um meine wichtigsten Reden zu entwerfen. Ansonsten spreche ich aus dem Stegreif.
Ich habe in Ihrem Vorzimmer und überhaupt in diesem Palast viele Leute bemerkt, die wie Studenten der 60er Jahre aussehen. Sind die Studenten die echte Avantgarde der tschechoslowakischen Revolution?
Die Studenten haben diese Revolution eingeleitet. Aber die jungen Leute, die Sie hier um mich herum sehen, sind Studenten im Wortsinn. Leute, die derzeit ziemlich viel studieren müssen.
Wenn die Studenten die Avantgarde der Revolution waren, glauben Sie nicht, daß sich das „revolutionäre Subjekt“ gewandelt hat? Hat Marcuse nach zwanzig Jahren gegen Marx Recht behalten?
Ich bin kein Marcusianer und kein Marxist. Und über solche Fragen sollen Theoretiker entscheiden. Für mich ist wichtiger, was geschieht, wie man die Dinge angeht: Die posthumen Etikettierungen und Verallgemeinerungen kümmern mich wenig - das ist Aufgabe der Beobachter und der Historiker und nicht der Leute, die das alles bewerkstelligen. Die nämlich müssen in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen vorgehen, auch ohne über irgendwelche Gesellschaftssichten, Eliten, Subjekte der Geschichte nachzudenken. Die einschlägige Analyse überlassen wir den wissenschaftlichen Instituten und den Universitäten. (Aus: 'La Repubblica‘ vom 6.2.90)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen