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Altlast Bremen: Müll, wo man geht und steht

■ Neues Gutachten: Bremen an 4.000 Stellen „potentiell kontaminiert“ / Von 80 Altdeponien bislang 20 untersucht und keine saniert

Das Gift ist unter uns. Mülltechnisch gesehen ist ganz Bremen eine einzige überdimensionale Altlast. Über 4.000 einzelne Flecken Bremer Erde stehen im Verdacht, mit Umweltgiften verseucht zu sein. Das ist das Ergebnis eines Gutachtens, das im Auftrag der Bremer Umweltbehörde erstellt wurde und jetzt in einer vorläufigen, noch unveröffentlichten Endfassung vorliegt.

Auf die Spur der Umweltsünder kamen die Gutachter dabei nicht in erster Linie mit Spaten und Chemielabor, sondern mit Archivarbeit und Aktenstudium. Ihr Thema: Die Geschichte der Bremer Industrieproduktion von 1800 bis 1970. Ergebnis: Eine Geschichte der industriellen Umweltvergiftung in Bremen unter Berücksichtigung der jeweils zeitgenössischen Produktionsverfahren incl. der seinerzeit unvermeidlichen und - aus heutiger Sicht - umweltgefährdenden Abfälle.

Ihre Befürchtung: In ganz Bremen dürfte es heute kaum noch ein Fleckchen Erde geben, an dem in den letzten 200 Jahren nicht irgendwann einmal Schlämme, Schlacken und Aschen verbuddelt worden sind. Was im einzelnen hinter, vor und neben den Fabrikhallen und Werkstätten von einst abgekippt oder vergraben und zugedeckt worden ist, weiß allerdings niemand mehr. Ein parallel erstelltes Gutachten, bei dem 100 ehemalige Industriestandorte exemplarisch genauer unter die Lupe genommen und alle verfügbaren Kenntnisse systematisch zusammengetragen worden sind, läßt allerdings z.T. Schlimmstes befürchten. Ein Behördenmitarbeiter: „Nach heutigen Maßstäben sind echte Schweinereien dabei“.

Nützen wird diese Erkenntnis

allerdings wenig. Selbst wenn weitere chemische und geologische Bodenuntersuchungen die Hiobsbotschaften der Gutachter bestätigen: Eine Sanierung aller Umweltsünden der Vergangenheit wäre erstens unbezahlbar und zweitens undurchführbar. 80 mal Müll der 50er

Die Verursacher deckt längst selbst die von ihnen verseuchte Erde, und eine ganze Stadt läßt sich schließlich sowieso nicht abtragen und „auskoffern“. Haupttrost der hauptamtlichen Bremer Umweltschützer: Supergifte wie Dioxine und Furane dürften in tieferen Bremer Erdschichten als Relikte früherer wirtschaftlicher Blüte nicht zu finden sein: Sie sind Erfindungen der Neuzeit.

Altlastensanierung findet in Bremen bislang auch sonst nicht

statt. Seit fünf Jahren ist die Bremer Umweltbehörde schon mit der Erfassung vergangener Umweltsünden mehr als ausgelastet. Während in der hanseaatischen Schwesterstadt Hamburg sich rund 80 Beamte um Bestandsaufnahme, Untersuchung und Sanierung von Altlasten kümmern, ist das zuständige Referat bei Umweltsenatorin Evi Lemke-Schulte ein Ein-Mann-Betrieb. Nebenher ist Referent Dr. Rolf Wundes außerdem noch für die Bremer Entsorgung von Sondermüll zuständig. Hilfestellung bei der intellektuellen Wühlarbeit im verseuchten Bremer Untergrund gibt es durch einzelne Mitarbeiter im Wasserwirtschaftsamt, im Hauptgesundheitsamt, einer senatsressort-übergreifende Facharbeitsgruppe und unabhängige Gutachterfirmen.

Seit fünf Jahren untersuchen chemische Labors z.B. eine ganz andere Art von potentiellen Zeitbomben: ehemalige Mülldeponien. 80 dieser - z.T. wilden - Deponien liegen unter grünem Rasen, Kleingärten, Wohnsiedlungen und Gewerbegebieten gleichmäßig im gesamten Bremer Stadtgebiet verteilt: Bombentrichter, die nach dem Krieg z.T. mit relativ harmlosem Bauschutt aufgefüllt wurden oder in die Anlieger ihren Hausmüll entsorgten. Wer da sonst irgendwelchen „Schiet und Dübelskram“ (Wundes) abgekippt hat, ahnt heute niemand mehr. Dank umfangreicher Recherchen weiß man inzwischen immerhin, wo solche „Altablagerungen“ liegen.

Bei einer großangelegten Umfrageaktion in ganz Bremen gaben Anfang der 80er Jahre längst

pensionierte Behördenmitar beiter Auskunft über die Müllentsorgung vergangener Jahre, Anwohner und Beiräte erinnerten sich an die Müllabfuhr per Pferdewagen und die - notwendigerweise nahen Deponieplätze. Das Ergebnis liegt besteht aus mehreren großen Stadtplänen, in denen alle 80 Altdeponien sorgfältig und mit kaartiert und in ihrem mutmaßlichen Gefährdungspotential klassifiziert sind. Die Kategorien reichen von 1 (harmlos) bis 5 (sanierungsbedürftig).

Seit 1985 läuft ein Untersuchungsprogramm, in dem die potentiellen Gefahren nach und nach durch Grundwasseruntersuchungen, Schürfungen und sogenaannten Rammkernsondierungs-Bohrungen eingegrenzt werden. 800.000 Mark stehen pro Jahr für die wissenschaftliche Untersuchung all dessen zur Verfügung, was Bremer in den von 50er bis 70er Jahren alles auf den Müll brachten. Einen Haushaltsposten „Altlasten-Sanierung“ sucht man im Bremer Etat dagegen bisher vergeblich. Dabei ist die juristische Lage eindeutig: Seit der Verabschiedung des Bremer Abfall -Gesetzes 1972 ist der Senat auch für den „ordnungsgemäßen Zustand“ von Mülldeponien aus

„vorgesetzlichen“ Müll-Zeiten verantwortlich.

Die ersten 20 der insgesamt 80 Kippen sind inzwischen für je 50.000 bis 100.000 Mark begutachtet - ohne akut alarmierende Ergebnisse, wie Altlasten-Experte Rolf Wundes beteuert, aber doch z.T. mit dder Diagnose: „sanierungsbedüftig“. So z.B. in der Meinert-Löffler-Straße in Bremen-Nord, wo eine inzwischen stillgelegte Ziegellei jahrelang ihre Schlämme und Schlacken abkippte. Wenn alles gut geht, soll in diesem Jahr endlich mit der Sanierung begonnen werden. Geschätzter Finanzbedarf für das erste Bremer Sanierungsprojekt: Fünf Millionen. Nach der Sanierung soll das Gelände wieder als Industrie- und Gewerbegebiet genutzt werden.

Was aus den übrigen Mülleinschlüssen in Bremens Erde werden soll, weiß bis heute niemand. 500 Millionen wären laut Schätzung von Experten für eine umfassende Sanierung fällig. Bremens Bislang einziger Altlasten-Beamter Rolf Wundes: „Auch für meinen Nachfolger wird es noch genug zu tun geben.“ Wundes selbst hat noch rund 20 Dienstjahre vor sich.

K.S.

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