: Übernahmestrategien
Die Destabilisierungskampagne aus dem Kanzleramt ■ K O M M E N T A R E
An nichts ist die Union derzeit weniger interessiert als an der Etablierung einer legitimierten und handlungs-, sprich verhandlungsfähigen Regierung in Ost-Berlin. Zu diesem Schluß muß kommen, wer die Kanzlerpolitik der letzten Tage Revue passieren läßt. Da wird über die Medien die Währungsunion propagiert, ein Blitzbesuch in Moskau veranstaltet und die Information vom bevorstehenden ökonomischen und politischen Zusammenbruch der DDR lanciert. Angesichts der desolaten Stimmungslage der DDR-Bevölkerung wäre es naiv anzunehmen, man habe die Folgen nicht kalkuliert, die die Prophezeiung des bevorstehenden Kollapses bewirken könnte. Das Kanzleramt setzt auf gezielte Destabilisierung. „Brandstiftung“ nennt es Lambsdorff, der damit zugleich die strategischen Differenzen innerhalb der Regierung pointiert. Dabei gehören das „Konzept“ Währungsunion und die Panikmache durchaus zusammen. Erstere gaukelt der hochgradig desillusionierten DDR-Bevölkerung vor, Löhne und Sparguthaben würden - möglicherweise schon vor den Wahlen und ohne weitreichende soziale Konsequenzen in D-Mark ausbezahlt. Die Katastrophenmeldungen, die die letzten Ansätze einer rationalen Debatte um unterschiedliche Lösungswege ersticken, bereiten das Terrain für solcherart Annexion. Die einheitseuphorische Stimmungslage in der DDR und die damit verbundene rapide Destabilisierung des europäischen Gefüges bergen, zumindest für die Union, keine Schrecknisse.
Schrecknisse bereiten den Planern im Kanzleramt derzeit die Prognosen für die Volkskammerwahlen. Die SPD hat mit der Vorverlegung der Wahlen ihre Chancen maximiert, nach dem 18. März die DDR bei den Vereinigungsverhandlungen zu vertreten. Deshalb hat die Union von den jahrzehntelang geforderten freien Wahlen nichts zu erwarten als die aktive Teilnahme der gesamtdeutschen Sozialdemokratie an der Gestaltung der Einheit. Die Realisierung Kohlscher Tagträume, die kanzlergesteuerte DDR-Übernahme, die schon antizipierte gesamtdeutsche Hegemonie der Union - am 18. März platzt das konservative Kalkül. Trotz aller hektischen Anstrengungen der Kanzleramtsstrategen wird man die Wahlen nicht mehr verhindern können. Das Wunschszenario, die Übernahme der DDR mit Moskauer Placet, populistisch angeheizten Stimmungen und einer wehrlosen DDR-Regierung über die Bühne zu bringen, hat kaum mehr Realisierungschance. Zu offen war Bonn an der Demontage der Modrow-Regierung, der man bei jeder Gelegenheit die Legitimation absprach, beteiligt. Ihr fehlt, nicht zuletzt infolge der Unionspropaganda, jegliche Kompetenz - selbst die zur Abwicklung der bedingungslosen Übergabe.
Aber auch wenn sich die Maximaloption der Bundesregierung Eingliederung der DDR ohne Wahlen - nicht mehr erreichen läßt, macht die jüngste Kampagne Sinn. Denn die verlockend klingenden Angebote ans Volk, gepaart mit der gezielten Desillusionierung etwaiger Konsolidierungschancen des Landes, sind sozialpsychologische Selbstläufer. Sie werden auch den Handlungsspielraum der künftigen Regierung massiv einengen: Wenn schon nicht die fungiblen Ostpartner der Union - in Ermangelung eines Wählerauftrages - die Übergabe absegnen, dann wird eben die aufgeheizt-verzweifelte Stimmung die unionskonformen Modalitäten der Einheit diktieren. Die Chance, daß zwei souveräne Regierungen nach dem 18. März einen fairen, schrittweisen und kalkulierbaren Vereinigungsprozeß aushandeln, soll schon im Vorfeld ad absurdum geführt werden. Paralysiert sieht sich die gesamtdeutsche Linke einem Prozeß konfrontiert, der mit dem Dogma der Zweistaatlichkeit auch diejenigen Optionen hinwegfegt, in denen der Einheitsprozeß nicht als bloße Ausdehnung der Bundesrepublik bis zur Oder denkbar erscheint.
Matthias Geis
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